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Rezensionen

 

Heimsuchung

 

Saskia Luka, Tag für Tag – Roman

 

 

 

Selbstverständlich wird dem Begriff Heimsuchung allgemein eine andere Bedeutung zugedacht. Dennoch trifft er in gewisser Hinsicht auch - jedoch nicht nur als leidvoll zu ertragendes Schicksal -  auf den Inhalt von Saskia Lukas Roman „Tag für Tag“ zu.

 

Maria, die Zigarillos rauchende Protaginistin dieses berührenden Familien-Romans sucht einerseits ihre Heimat und wird zugleich von ihren dortigen Erlebnissen immer wieder heimgesucht.

 

Kurz bevor ihr Mann unerwartet früh starb, holte die trauernde Maria ihre Mutter Lucia aus einem entlegenen kroatischen Dorf zu sich nach Bayern.

 

Anna, Marias 17-jährige Tochter, genießt die Anwesenheit ihrer Großmutter, während Maria sich mit dem Dreigenerationenhaushalt überfordert fühlt und zunächst kaum einen emotionalen Zugang zu ihrer alten Mutter und deren alten und neuen Gewohnheiten findet.  

 

Neben der mühsamen Hausarbeit gilt es für Maria vor allem, jene scheinbar unlösbaren Konflikte, die sich aus dem Generationen- und Herkunftsunterschied der Dreifrauengemeinschaft ergeben, auszuhalten oder gar zu bewältigen.

 

Es fällt ihr sehr schwer, den Tod ihres Mannes zu verarbeiten. Zudem wird sie durch ihre Mutter von ihrer kroatischen Kindheit immer wieder eingeholt. Als dann auch ihre Mutter stirbt fährt sie in deren Heimatdorf, um sie dort zu begraben und noch eine Zeit lang im Haus der Mutter zu bleiben.

 

Die beeindruckende kroatische Gebirgslandschaft, deren Ruhe und die Stille sowie die Einfachheit des Dorflebens und die Weiten des Mittelmeeres helfen ihr bei der Trauer. Allmählich kommt sie zu sich und es gelingt ihr, sich auf neue Hoffnungen einzulassen.

 

So findet Maria, obwohl sie mit dem Tod ihres geliebten Mannes und dem ihrer zu Lebzeiten äußerst eigenwilligen Mutter zunächst die jeweilige Heimat verlor, bei ihrer Rückkehr nach Deutschland zu der kaum erwarteten Gewissheit, auch an durchaus verschiedenen Orten heimisch sein zu können.

 

 

 

Saskia Luka, 1980 in Köln geboren, lebt heute in Berlin und auf der dalmatinischen Insel Brac. Sie lässt ihre Romanheldin Maria als Malerin ihre jeweilige Umgebung eingehend beobachten und zu Bildern umgestalten, die stets unmittelbar aus ihren genauen Beobachtungen und tiefen  Gefühlen entstehen.

 

Somit können die Leser*innen nahezu distanzlos an ihrer zweiweise inneren Zerrissenheit, an ihrer Trauer und den Konflikten mit ihrer Tochter und Mutter teilhaben.

 

Eindrucksvoll versteht es die Autorin, im Haus der Mutter Lucia, in der Abgelegenheit des Dorfes und unter den dort beteiligten Menschen eine Atmosphäre aufzubauen, die durch einfache Szenen besticht und tief in das Leben von Großmutter, Mutter und Tochter  sowie in deren Umgebung hineinzieht: „Der Heimweg lag in der Abendsonne, die Bäume am Straßenrand warfen lange Schatten, Marias Sommerkleid flatterte. Lucia hatte offenbar Gefallen an ihrer Kutsche gefunden und ihr Gesicht in Freundenfalten gelegt. Sie thronte auf der Sitzbank und sang. Den Refrain sangen auch Anna und Maria mit. Anna legte theatralisch die Hand auf ihr Herz und verschluckte den Text mit ihrem Lachen… „

 

Dabei bemüht sich Maria immer wieder, mit Vernunft die eigenen Gefühle zu bändigen, bis sie sich endlich ganz auf sie einlassen kann.

 

 

 

Der Familienroman „Tag für Tag“ vermittelt und vermischt sowohl Migrationserfahrungen als auch die Auseinandersetzungen bei durchaus heftigen Generationskonflikten.

 

Damit ist er ein absolut liebenswertes Bekenntnis zu einem Leben mit unvermeidbaren Ereignissen, Fehlentscheidungen, Trauer und Abschieden, bis er schließlich auch die Leser*innen zur Rückkehr in die eigene Kindheit und zu einem mutigen Neuanfang voller Lebenslust verführen kann.

 

Auch wenn darin vor allem Frauen versuchen, ihr Leben zu meistern, ist er dennoch kein reiner Frauenroman. Immerhin sind Nebenrollen mit einfühlsamen Männern besetzt, die nicht als die üblichen Frauenversteher ihren Vorteil suchen. Sie tragen daher wesentlich zum Gelingen ihres und des Lebens der drei Frauen bei.

 

Nicht zuetzt deswegen ist „Tag für Tag“ Leserinnen und Lesern auch als emotional aufbauende Lektüre zu empfehlen.

 

 

 

Saskia Luka, Tag für Tag, Roman, Verlag Kein & Aber, Zürich, 2019, 303 Seiten, € 20.-







Aus dem Leben gegriffen

John W. Dorsch - Lyrik von heute & morgen

 

Wenn vollkommen unterschiedliche Gedanken „durch wohlklingende Lyrik aneinander gekettet werden, ohne den Fluss der Ideen zu verbinden“, hält John W. Dorsch derartige Texte  für „Moderne Lyrik“. Damit beschreibt er zugleich seine Mühen mit dem Schreiben dieser Art von Literatur sowie mit  ihren vermeintlich unverbundenen Gedanken. Dennoch lässt er es sich nicht nehmen, in seinem Band „Lyrik von heute und morgen“ einige durchaus gelungene derartige Schreib-Versuche zu starten.

 

So glückt ihm mit dem Gedicht „lyrik der farben“ ein Wut-Text, der „ironisch grinsend“ seinen „horizont umspannte/ um“ ihn „an die bleiernde erde zu fesseln“.

Eindringlicher können Bilder vom Wunsch nach Freiheit und der Unfähigkeit, ihm bedenkenlos nachzukommen, kaum sein.

Umso mehr versöhnt dann das folgende Gedicht „Träume“, da beim Blick in den Nachhimmel „gedanken in die unendlichkeit“ führen, um genau jene Freiheit zu suchen und zu finden.

 

Nach eigenem Bekunden schreibt der Autor Gedichte, die aus dem Leben gegriffen sind.

So ermuntert er in dem angeblich nicht modernen Gedicht “Spielball“ seine Leser*innen ganz und gar lebenspraktisch und selbstbewusst: „Glaube ruhig/an die eigene Entscheidung/du Spielball der Zufälle.“

Und in „Erwachen“ weckt ihn plötzlich „ein Sonnenstrahl“ an einem depressiv grauen Tag und lässt ihn wieder zufrieden „an der Wirklichkeit“ teil haben.

 

John W. Dorsch liefert somit im besten Sinne Alltagslyrik, in deren eindrucksvollen Bildern und Gedanken sich viele Leser*innen mit ihren Erlebnissen, Wünschen, Gefühlen und Gedanken wiederfinden werden.

Und ganz und gar zuversichtlich endet der Band daher mit der letzen Strophe seines Gedichts „Regen“: „Genau wie der Regen/den Staub der Straße wegwischt/macht er mich frei,/ für die sonnigen Grüße von oben.“

 

Dieser eher schmale Lyrikband erlaubt einen umfangreichen Einblick in jene Alltagsgefühle, die nicht nur ältere Menschen ermuntern können, das ihnen gewohnte Leben ohne zu viele hindernde Einschränkungen zu genießen. Da Dorsch zu praktisch philosophischen Erkenntnissen neigt, und sich dazu bereits in anderen Büchern geäußert hat, ist es nicht verwunderlich, dass auch diesmal seine Lyrik davon geprägt ist.

Sein Gedichtband ist somit ein reichhaltiger Fundort für Lebensweisheiten und zudem als Mutmacher im Alltag zu empfehlen!

 John W. Dorsch, Lyrik von heute und morgen,  Gedichte, Eigenverlag, Wolfenbüttel 2019,  79 Seiten





Heimatroman der tiefsinnigeren Art

A.J. Weigoni – Lokalhelden

 

Die tiefgründigen philosophischen und psychologischen Erkenntnisse über Kölsche und andere Anwohner am mittleren Teil des deutschesten aller Flüsse scheinen vor allem unter nicht immer geringem alkoholischen Einfluss der jeweiligen Bekenner beobachtet und aufgeschnappt worden zu sein. Und so mancher mehr oder weniger geschwätzige Brauhaus-Gast ist, wenn der Autor Recht behalten sollte, offenbar mit einem schier unermesslichen Repertoire wissenschaftlicher Fachausdrücke gesegnet.

Das lässt nicht allein Rückschlüsse auf den schier unermesslichen Wortschatz des hochbegabten Lyrikers Weigoni zu und macht die Romanfiguren zunächst eher unglaubwürdig, schafft allerdings Typen, die durch den Autor intellektuell überhöht werden, ohne dadurch als solche real unvorstellbar zu sein.

Über 25 Jahre hat Weigoni an diesem intellektuell anspruchsvollen und dennoch nicht abgehobenen Heimatroman gearbeitet. Dabei brachte er manches zusammen, was zunächst unvereinbar wirkt, zumal er den Rheinländer u.a. als Meister einer Philosophie widerspruchsloser Widersprüche darzustellen weiß.

Und nicht nur dabei verbindet Weigoni manches, was in der Form kaum vorstellbar ist. Für ihn wirkt der Rheinländer offenbar wie ein Sammelsurium unterschiedlichster Verhaltens- und Denkschemata. Was im übrigen den echten Historiker kaum verwundert, da das Rheinland bereits in vorrömischer Zeit nahezu unablässig von fremden Völkern durchwandert und erobert worden ist.

Somit wurde bereits vor Jahrtausenden die rheinische Anpassungsfähigkeit und Toleranz immer und immer wieder herausgefordert.

Und da Deutschland im Herzen Europas ebenfalls Jahrtausende lang Durchzugsgebiet war, steht das Rheinland in vielem auch noch nach der sogenannten Bonner Republik für andere deutsche Lande.

Unübersichtlich viele Lokalhelden lässt der offensichtlich äußerst belesene Romanautor mit ihren jeweils ureigenen Ansichten auftreten - ganz im Sinne der heutigen Massengesellschaft, deren Mitglieder zugleich unbedingt als Individualisten gesehen werden möchten und dennoch einer gewissen Spezies angehören wollen.

Zu den Lebensstrategien der Rheinländer gehören nach Weigonis Wahrnehmung und Machart u.a., dass „er sich durchs Leben treiben“ lässt „und hofft, dass ihm irgendwann klar wird, worauf er eigentlich wartet.“

Es ist durchaus vorstellbar, dass der Roman Lokalhelden eine ähnlich abwartende Entstehungsgeschichte hat. Immerhin hat der Autor ein Vierteljahrhundert benötigt, um seinen Roman zu jenem Ende zu bringen, auf das er vermutlich gewartet und zugearbeitet hat. Und in dieser Zeit mögen ihm diverse rheinische Zeit-Genossinnen und Genossen begegnet sein, denen er in seinem Roman immer wieder ein Kurzaufnahme gewähren konnte.

Natürlich waren dabei auch diverse Jecken bei unterschiedlichsten Karnevalsereignissen, die ihn einer seiner vielen, eher verständnislosen Protagonisten fragen lässt:

„Kann eigentlich unsere zivilisierte Welt noch länger akzeptieren, dass Hunderte von Betrunkenen mit bemalten Visagen und lustigen Hütchen durch die Straßen marodieren, um eine Schneise der mentalen und ästhetischen Verwüstung zu schlagen?“

Ja, denn hier hilft der nahezu zweitausendjährige rheinische Katholizismus. Er hat sich lebenspraktisch immer wieder bewährt und bietet ohne größeren Aufschub seine Hilfen an.

„Man hört sich schlechte Reden an oder hält sie selbst. Hinterher feiert man, dann ist es futschikato, wie nach der Beichte.“

„„Der Sumpf ist bereits trockengelegt, wozu noch mit Schlamm schmeissen? Es gibt eine Moral, auch im Morast und eigentlich gerade da„, schließt der Pastor den Abend“ im Brauhaus „salbungsvoll, faltet die Hände und ist mit sich und seiner Rolle zufrieden.“

Kleriker dieser Art sind äußerst beliebt in den rheinischen Gefilden. Dogmatische Erzbischöfe und ihre geistlichen Helfer bekanntermaßen eher nicht.

Natürlich lässt Weigoni sich sprachlich wohl klingend, wie es sich für einen begabten Lyriker gehört, über alle im ach so toleranten Köln lebenden Minderheiten aus. Schwule, Lesben, Transen sind seinem und ihrem eigenen rheinischen Singsang und Charme erlegen.  Banker, Unternehmer, Türken, diverse Künstlerinnen und Künstler, Prostituierte, Sozialarbeiter und sogar „Heteronormalverbraucher“ stromern durch die unzählige Romanszenen. Einen lässt er gar „im heiligen Unernst“ frauenemanzipatorische aufstöhnen: „Ihr Weiber seid intellektuell echt unterfordert und emotional überfrachtet.“

Aber nicht selten eignen sich Weigonis Aussprüche im Sinne kreativ rheinischer Redseligkeit auch als Aphorismen, Kalendersprüche und andere Lebensweisheiten.

Allein deswegen ist der Roman mehr als lesenswert. Daher wird hier inhaltlich nichts weiter von den noch so lebensklugen Sprüchen verraten. Bis auf:

Keine Lösung ist auch eine Lösung. Oft sogar die bessere. Auch wenn der Roman endet:

„Es lässt sich nicht sagen, ob es (das Leben) besser wird, wenn es anders wird; aber so viel kann man wagen: Es muss anders werden, wenn es wirklich gut werden soll.

Und nach der Lektüre des Romans, den ich hier nicht nur Rheinländern empfehle, kann es nur besser werden, liebe Leserinnen und Leser.

 A.J. Weigoni, Lokalhelden, Roman von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Verlag der Artisten,  320 Seiten, TB-Ausgabe 19,80 Euro. Gebunden, handsigniert und limitiert auf 111 Exemplare, 29,80 Euro





 

Sprachjonglagen 

Manfred Enzensperger – und wenn du aus dem haus gehst ist dort der tag

 

Seine Bilanz ist mehr als beeindruckend: 20 Jahre lyrisches Schaffen der ganz besonderen Art. Unglaubliche Serien gekonnter Sprachjonglagen zwischen zwei eher konservativen und schlichten leinengebundenen Buchdeckeln.

Und gerade bei Jonglagen ist der Gleichgewichtssinn und die Fähigkeit zu fangen ebenso unverzichtbar wie für diesen Ausnahmelyriker, geschickt Worte zu präsentieren, ohne dabei sinnlose zu verlieren und darüberhinaus das Gleichgewicht zwischen sinnvoll und fantastisch zu wahren.

Kaum haben die Leser sich in den „Sperrbezirk“ – so heißt nach einem früheren Buchtitel Manfred Enzenspergers das erste Kapitel  – hineingewagt, sind sie auch schon gefangen in dessen ureigener Sprachwelt, in einer, in die ich mich bisher nirgendwo sonst derart einlesen konnte.

„der text sagt, schreiben ist nicht bloß schreiben“. Schreiben seien „vermessungsakte zwischen wort und ding/mit tendenz zur guten gestalt ohne genormten/ maßstab“.

Und genauso kommen Enzenspergers eigenwillige Texte daher und spinnen Leserinnen und Leser schon nach den ersten wenigen Zeilen in ein Netz verführerisch anlockender Wortgebilde sowie ungewöhnlicher Metaphern und Sinnkombinationen ein. Und aus diesem Netz gibt es bis zum Ende des 335 Seiten umfassenden Gedichtbandes eigentlich kein Entrinnen mehr.

 

„was soll das mit der/änderungsschreiberei/nichts als baustellen/wir wollen weiter“. Und weiter kommen dieser Lyriker und seine faszinierten Leser mit einigen englischen und vorwiegend deutschen Gedichten, die jenseits der üblichen Wahrnehmungen eine andere Welt zu entdecken und zu verbergen helfen. „nun habe ich den schlüssel/ doch es fehlt mir die tür“. Aber dann ist plötzlich „überall sprachmorast versiffte signatur“.

Somit bleiben Autor und Leser gemeinsam Suchende, die immer wieder aufs Neue fasziniert von Wortbild zu Wortbild tastend fündig werden, wenn sie sich auf ein weites Feld nahezu unbegrenzter Assoziationen einlassen.

Dabei ist Enzenspergers eher spröde Sprache nie in Gefahr, künstlich oder gar kitschig zu wirken.

Und auch wenn der Germanist, Anglist und Erziehungswissenschaftler bei fast allen seinen Texten immer wieder durchscheint, kommt er dennoch nicht einmal pädagogisch belehrend oder gar besserwisserisch daher.

Seine Texte drängen sich nie auf, wecken aber durch ihre Geheimnisse stets aufs Neue Interesse.

Wer Deutsch oder Englisch sprechen will und das mit der Sprechweise dieses außergewöhnlichen Autors versucht, wird sich vom sicheren Festland auf kleine und größere Sprachinseln begeben müssen, die allerdings jegliche Idylle vermissen lassen.  Dabei wird der weitgereiste Leser durchaus bekannten Orts- und Städtebezeichungen begegnen und sich vermutlich an Örtlichkeiten erinnern lassen, von denen ihn allerdings immer wieder lyrische Fantasien entführen.

Enzenspergers Titel „und wenn du aus dem haus gehst ist dort der tag“ ist zugleich Programm für Leser, die sich herauslocken lassen wollen, um sich in einem neuen Tag zu begegnen. Dabei müssen sie noch nicht eimal ausgesprochen Lyrik begeistert sein. Sie  sollten aber die Bereitschaft haben, sich durch Experimente eines geschickten Sprachjonleurs begeistern zu lassen.

 

Manfred Enzensperger,  und wenn du aus dem haus gehst ist dort der tag, Gedichte von 1998 – 2018, Verlag Ralf Liebe, Weilerswist, 2018,  leinengebunden, 335 Seiten,     € 24.-

 

 



 

 


Geliebtes Liebesleben

Richard Wolter - Letzte Nacht endete heute früh

 

Es ist sein erster Gedichtband. Und dennoch ist Richard Wolter , der bisher einen Roman und Kurzprosa veröffentlichte, gewiss kein Lyrik-Anfänger.

In seinen 40 titellosen Gedichten, hinter denen vermutlich auch viele eigene Erfahrungen stecken, singt er das hohe Lied der Liebe. Manchmal laut, doch meistens eher leise und mit einfühlsamen Texten, sorgfältig in der Wortwahl, vor allem aber ohne jede Entgleisung in abgeschmackte Banalität.  Ganz nebenbei gelingt es ihm, die bittersüße Leidenschaft, die dem Thema selbstverständlich innewohnt,  immer wieder in Wortbildern auszumalen.  Nicht einmal gleitet er dabei ins Kitschige ab, obwohl  gerade gereimte Verse schnell zu schmalzigem Herzschmerz verleiten können.

 

Neben seinem Interesse für weibliche Schönheit , spürt der Leser deutlich Wolters Hingabe zur  lyrischen Prosa, zum Gedicht und zum Leben überhaupt.

Doch seine besondere Liebe gilt der persönlichen Freiheit, wenn unter anderem in einem seiner Gedichten anmerkt: „sicherheit ist eine / fantasie“ .

Selbstredend gehen seine lyrischen Liebesgeschichten nicht ausnahmslos glücklich aus. Auch verzwickte und gescheiterte lässt er nicht aus, denn, so stellt er fest, „es gibt widersinn auf erden / den wir nie entknoten werden“. Auch durch „das wechselspiel / der tiefen und höhen“ sei „wahre liebe“ „nicht zerstörbar“ und „ohne liebe“ sei „alles nichts“. Allerdings „die liebe verteilt auch hiebe“.

Der Autor ist beruflich und privat weit gereist, wurde in Bremen geboren und lebt heute in Thailand. Seine damit verbundenen zahlreichen multikultuerllen Erlebnisse sind offenbar nicht zuletzt jene, die auch in seine Liebesgedichte eingeflossen sind.

Mit seinem Bekenntnis zur Liebe, der er im übrigen jene Mut auslösende Macht zutraut, die unsere konfliktträchtige Welt zusammenhalten könnte, spricht er sicherlich vielen seiner möglichen Leser aus dem Herzen. Er „will nicht leben mit alltagsbanalität / etwas zu verändern dafür ist es nie zu / spät“.

Ein eher schmaler Gedichtband, der allerdings vor prallem Leben nur so strotzt.

 

Richard Wolter, Letzte Nacht endete heute früh, Gedichte, Gill Verlag Ratingen 2017, 59 Seiten, € 7,50




















 


Derder

Schule der Brutalität

Der Schmierfink

 

Nicht nur in Deutschland beklagen viele die weltweite nahezu ungebremste Zunahme an Gewalt und Brutalität sowie an übler Hetze und Todesangst auslösenden Bedrohungen.

Kriege, Terrorismen, Hooligans, rechte Gewalttäter, politische Hetzer oder auch die rücksichtslose Fahrweise im Straßenverkehr sowie brutalste Raubüberfälle, nicht zuletzt von Jugendlichen an Jugendlichen ausgeübt,  überschwemmen die Medien.

Somit ist es kaum verwunderlich, wenn auch eine Romanschreiberin sich mit gewaltätigen Geschehen und Fantasien auseinandersetzt.

Ungewöhnlich ist allerdings, wenn eine gerade einmal 22 Jahre alte Autorin sich abgrundtief - und somit zugleich alles andere als oberflächlich - dem Wesen und Entstehen lebensbedrohlicher vorwiegend männlicher Gewalttaten nähert.

 

Dana Polz, 1995 in Wiesbaden geboren und in der Bad Camberger Literaturszene beheimatet, hat mit „Der Schmierfink“ ein beachtenswertes Erstlingswerk als Romanautorin vorgelegt.

Und nicht zuletzt beweist damit auch die Edition Federleicht eine gehörige Portion verlegerischen Mutes und bietet einer weitgehend unbekannten jungen Literatin zu einem nicht gerade unbelasteten Thema eine derartige Chance.

 

Kaum eingeschult, fällt Linus Lopez ,Hauptfigur dieses ungewöhnlichen Romans, durch extrem asoziales Verhalten auf. Mit durchaus nachfühlbarem Vergnügen pinkelt er einer Klassenkameradin in den offenen Schulranzen.

Weder die Empörung seiner Lehrerin noch die bemüht verständnisvollen  pädagogischen Anstrengungen des Grundschulleiters halten den vom Vater misshandelten Sohn einer schwer drogenabhängigen Mutter von weiteren Untaten ab.

Da der Vater die süchtige Mutter und schließlich auch sich selbst umbringt, kommt Linus zu Pflegeeltern, von denen er schließlich auf  ein Internat abgeschoben wird.

Zunächst scheint er sich dort innerhalb der Schülergemeinschaft positiv zu entwickeln.

Doch an dieser Heimschule leben, lernen und lehren ausschießlich Jungen und Männer. Somit ist es kaum verwunderlich, dass dort exessiv männliche Rituale der Macht und Ohnmacht gepflegt werden.

In dieser Erziehungseinrichtung herrscht ein streng hierarisches Regiment, das ältere Schüler mit aufrecht zu erhalten helfen und dem ein scheinbar freundlicher, aber brutal konsequent durchgreifender Direktor vorsteht.

Sowohl er als auch andere Lehrer setzen ihre Macht und ihre Regeln unter anderem erbarmungslos mit schmerzhaften Stockschlägen und beißender, ehrverletzender Kritik durch.

Zudem birgt die Schule Geheimnisse, die an Brutalität und Lebensverachtung kaum zu überbieten sind.

 

Dana Polz bleibt als Erzählerin sehr glaubwürdig, obwohl sie sprachgewaltig und zugleich mit einer gewissen, notwendigen  Distanz jene unglaublichen Vorfälle im Leben des Linus Lopez schildert.

Obwohl sie offensichtlich die aktuelle Jugendsprache ihres Protagonisten beherrscht, verwendet sie diese eher sparsam und schrieb damit kein Jugendbuch sondern eines für Erwachsene auf der Suche nach Gründen für die zunehmende Brutalität in unserer derzeitigen deutschen Gesellschaft. Allerdings bietet sie keine intellektuellen Erklärungen an, sondern überlässt die Geschehnisse des Romans deutungsfrei vor allem den Gefühlen ihrer Leserschaft.

Eine äußerst spannende Lektüre für nicht allzu zart besaitete Leserinnen und Leser. 

 

Dana Polz, Der Schmierfink, Roman, Edition Federleicht, Frankfurt am Main 2017, 270 Seiten, 16.- €

 


 


Brutale Gegenwart als Märchen erzählt

Märchenspiegel der Aramesh  

 

Eigentlich hat sie sich bisher vor allem als Lyrikerin hervorgetan.

Aber jetzt ist Barbara Naziri ohne jede Frage ein glänzendes Debüt als Märchenerzählerin gelungen.  

Wenn überhaupt, dann hat natürlich sie als Deutsch-Iranerin mit jüdischen Wurzeln die entsprechenden literarischen „Gene“ und kann aus morgenländischer sowie jüdischer Erzähl-Tradition nahezu grenzenlos schöpfen.

Wort- und metaphernreich erzählt sie von den grausamsten Erlebnissen und damit von der traurigen Gegenwart zweier Kinder, die im Jugendamtsjargon als sogenannte unbegleitete Minderjährige aus morgenländischen Kriegsgebieten Richtung Westen fliehen müssen, da ihre Eltern ihnen kein sicheres Zuhause mehr bieten konnten.

Sie vertrauen sich Schleppern sowie anderen erwachsenen Flüchtlingen an, stoßen in den Ländern, die sie zu Fuß oder mit dem Zug durchqueren immer wieder, aber nicht nur auf hilfreiche Menschen.

Am Ende finden das Mädchen Aramesh und der Junge Darius nach der langen und  entbehrungsreichen Flucht in Deutschland eine Pflegemutter, die ihnen sehr zugetan ist und die Gewohnheiten ihres Landes nahebringt.

Barbara Naziri beherrscht in ihren Märchen eine fast mühelos wirkende bildhafte Sprache und eine  insgesamt leicht schwingenden Sprachmelodie, die scheinbar aus der harten Gegenwart herausführt, um wenig später umso emotionaler in die grausame Wirklichkeit  zurückzukehren.  

Gekonnt übersetzt sie die Alltags- in eine Märchensprache, die Kindern sowie Erwachsenen die Nöte von den beiden jungen Flüchtlingen einfühlsam und verständlich näher bringt.

Neben dem Rahmenmärchen über die Flucht der Beiden, entdeckt das Mädchen Aramesh in den Splittern ihres Märchenspiegels,  die sie als Teile ihrer zerstörten Heimat mitnahm, immer wieder neue Märchen, die sie in diverse zumeist tröstliche Fantasiewelten eintauchen lässt.

Die Figuren in den Erzählungen müssen manche Abenteuer bestehen, die allerdings stets märchenhaft gut ausgehen.

Selbstverständlich ließ die Lyrikerin Naziri es sich nicht nehmen, in den Märchen ihren fantasievollen Figuren immer wieder wohl klingende Zaubersprüche, Verwünschungen und Verheißungen in gereimter Form in den Mund zu legen.

So lässt sich der hoffnungsvolle Frühling ermutigend vernehmen: „Kommt mit mir hinaus in Garten und Flur / die Bächlein und Bäume zu wecken,/ Kommt mit auf die Wiesen und lobt die Natur, / dort, wo sich die Blumen verstecken.“

Am Ende ihres Buches  ließ die Autorin, die auch als Menschenrechtsaktivistin unterwegs ist, ihren Wünschen freien Lauf und schrieb:  „Die Diktatoren beugten sich dem Volk, die Reichen teilten ihr Hab und Gut mit den Armen. Niemand beschnitt die Freiheit des anderen oder betrog ihn gar, die Menschen akzeptierten einander, wie sie waren, die Dunkelheit wich dem Licht und der Hass wurde von der Liebe besiegt. Und das ist eigentlich das schönste Märchen.“

Dem Illustrator Mario Herla (GreybearMH) und der Illustratorin „Hokuspokus“ gelangen auf dem Cover und im Buch 19 stimmungsvolle Bilder.

Somit haben sie und vor allem Barbara Naziri ein Buch geschaffen, das älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen auf märchenhafte Weise die Grausamkeiten, aber auch die tröstlichen Situationen kinderlicher Kriegsflüchtlinge anschaulich nahebringt.  Bei allem Unglück wird darin die Zuversicht nie ganz aufgegeben…

 

Barbara Naziri, Märchenspiegel der Aramesh, Karina Verlag, Wien 2017, 316 Seiten, 22,90 €

 

 



Alltagstaugliche Philosophie

Lyrik von John W. Dorsch

 

Der Wolfenbütteler Autor John W. Dorsch veröffentlicht in seinem Gedichtband „Philosophische Lyrik“ vor allem Alltagstaugliches. Und das ist weder im Bereich Lyrik noch unter Philosophen immer üblich.

Die Gedichte seines 71 Seiten umfassenden Bandes sind ein Auszug aus anderen seiner Gedichtbände und Teil aus den Erkenntnissen seiner Prosa.

Immer wieder greift Dorsch auf seine über 80 Jahre Lebenserfahrung zurück, um daraus vor allem klare Fragen zu stellen, aber auch vorsichtige Antworten  zu versuchen. So kommt er in seinem Gedicht „Wer bin ich“ zu dem Schluss, „Die Antwort liegt tief in mir drinnen / in Ahnungen geheim versteckt.“

Unter dem Titel  „Eigensinn“ fragt er sich und seine Leser: „Ich bin eigensinnig. / Bin ich damit selbstsüchtig, / oder überheblich? / Ist – / einen eigenen Sinn zu haben – / falsch?“ Und dieser Text endet überzeugend mit „Sei eigensinnig.“

In seinem Gedicht „Warten“ möchte er wissen: „Ist das Ende wirklich das Ende? Oder wartete man in der Ewigkeit weiter? Aber auf was?“ Und hier bleibt er einmal mehr eine Antwort schuldig.

Was ihn offenbar an Philosophie und Lyrik begeistert, gesteht er in der Gedichtstrophe ein: „Wenn es Dir gelingt, / die Frage nach dem Warum / und dem Weshalb / lyrisch zu hinterfragen,/ gehörst Du zu den Menschen, / die die Welt / in ihrer ursprünglichen Form / verstehen / und begreifen.“

John W. Dorsch gehört ganz bestimmt zu diesen Menschen.

In seinem Band verfasste er unkomplizierteTexte, die es seinen Leserinnen und Lesern leicht machen, sie zu verstehen. Allerdings ihre Inhalte im Alltag zu verwirklichen, wäre durchaus sinnvoll, aber bei weitem nicht so einfach.

 

Ein schmales, aber inhaltsreiches Buch für Menschen, die bereit sind, sich auf philosophische Fragen einzulassen, um gern selbst weiterzudenken.

 

John W. Dorsch, Philosophische Lyrik, edition winterwork, Borsdorf, 2017, 71 Seiten, € 9,90



 

Randnotizen

Nebensachen zu diversen Hauptsächlichkeiten

Satiren und andere Wahrscheinlichkeiten von Peter Reuter

 

Wenn sich der Autor Peter Reuer und sein legendärer Füllhalter an die Arbeit machen, kann dabei immer nur Unwahrscheinliches herauskommen. Denn die Beiden haben ihren ganz eigenen Humor und eine durchgehend ironische Sicht auf ihre Umwelt.

 

Der prall mit erstaunlichen Beobachtungen gefüllte Band könnte ein sorgfältig geführtes Tagebuch sein. Allerdings fehlen die genauen Daten der jeweiligen Tage, zumal es ohnehin schwierig wäre, jene in den Randnotizen eingefangenen Erlebnisse oder persönlichen Urteile nur jeweils einem ganz bestimmten Tag zuzuordnen. Es sind im besten Sinne All-tagsszenen, die offenbar einem gewissen Wiederholungszwang unterliegen.

 

Warum auch immer spielen die deutsche Politik und Wirtschaft mit fast allen ihren Facetten dem Füllhalter und dem Autor jede Menge wesentlich und vor allem auch unwesentliche Ereignisse zu, die beide genüsslich kommentieren müssen.

Selbst das „Märchen vom Grundgesetz“ lassen sie nicht aus. Es spielt verständlicherweise in einem deutschen Märchenland mit „einer lebenswerten und menschenfreundlichen Verfassung“. Diese erste Randnotiz des Buches  schließt mit dem Erstaunen, dass viele Menschen den Autor fragen, „wie man auf solch putzige Gedanken komme“. Danach waren die Väter des Grundgesetzes eben auch passionierte Anhänger des Land der Dichter und Denker.

Das „wahre Leben“ ist Peter Reuter 19 Eintragungen in sein Randnotizbuch wert.

Es findet sich unter anderem  in den besonderen Abenteuer beim Nacktbaden im Baggersee. Und als der Schreiber der Randnotizen der real sehr netten und unbekleideten Frau Sowieso die Hand reicht und er darum den Füllhalter wegestecken muss, endet das mit jähem Schmerz, da sich jenes Schreibgerät nicht in nicht vorhandenen Kleidungsstücken sondern nur auf nackter Haut verstauen lässt.

 

Auch zum einzig Wahren, zur Liebe, sind dem Autor unterschiedlichste Anmerkungen eingefallen.

Nach Dietrich Bonhoeffer ist da, „wo die Liebe ist“, „der Sinn des Lebens erfüllt“.

Und im Glauben, seine große Liebe vor sich zu haben, gesteht darum der Autor: „Ich liebe Dich – und wie!“. Um dann festzustellen, dass er nur vor dem schlecht geputzten Schlafzimmerspiegel steht.

Schließlich gelingt es dem Gedichteschreiber in seiner Notiz „Tja, Lyrik eben“ nicht einmal durch Einschaltung des Germanistischen Instituts der Universität in Wladiwostok, den entsprechende Verleger von der Güte seiner besonderen Wortwahl zu überzeugen.

 

Besonders für Leser und Leserinnen mit einer ausgesprochenen Vorliebe für grotesken Humor sowie für die Skurilitäten des achso Alltäglichen ist dieses Buch eine wahre Fundgrube. 

 

Peter Reuter, Randnotizen, INKAS - edition maya,  Bad Kreuznach und Bingen 2017, 182 Seiten, € 12,50


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Aus einer möglichen Möglichkeit
Klaus Hansen & Klaus Hansen   Scheinbar klare Verhältnisse
Ein Lese-Bilder-Buch von Klaus Hansen und Klaus Hansen

Wenn sich ein Cheflayouter und Fotograf einerseits sowie ein Hochschulprofessor und belletristischer Publizist andererseits zusammentun und beide auch noch Klaus Hansen heißen, dann sind, wie der Titel ihres gemeinsamen Buches schon besagt, „Scheinbar klare Verhältnisse“ vorprogrammiert.

Der hier diesmal auch nicht wissenschaftlich schreibende Professor mit Hang zur Satire und der motivsichere Fotograf mit dem gewissen Blick für eigentümliche Zufallsbegegnungen leisten ihren postfaktischen Anteil an einer uneindeutigen Weltsicht. Diese Sicht wird durch Fotos und Texte mit vor allem widersprüchlichen Details deutlich undeutlich vermittelt.

Beide - sicherlich mit einem großen Bewegungsraum links von der gesellschaftspolitischen Mitte – schildern eine menschliche, aber durchaus nicht immer humane Welt, die Volker Hages Hinweis auf der hinteren Umschlagseite vollkommen entspricht: „Was unwahrscheinlich klingt, hat sich wahrscheinlich so ereignet. Was realistisch klingt, könnte erfunden sein.“

Klaus Hansen sorgt mit ausdruckstarken Fotos dafür, dass sich jeweils zu einem prägnanten und eher kurzen Text des anderen Klaus Hansen eine zugleich unabhängige und dennoch passende Bildgeschichte gesellt.

Mit  Ausschnitten aus einer möglichen Wirklichkeit deuten beide ihre einzelnen zum Teil pikanten Geschichten keineswegs zweifellos und in groben und immer einmal wieder deutlichen Einzelheiten an. Damit können Leser und Bildbetrachter mit eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen fortsetzen, was vermutlich auch nicht wirklich klare Verhältnisse für sie schaffen wird.

Das Leben bleibt halt ein Abenteuer mit allzu offenem Ausgang, auch wenn immer wieder Angst und Sicherheitswünsche der Leser und Betrachter dem entgegenstehen mögen. Oder, wie Klaus, der eine fragt: „Gibt es eigentlich das Wort leben noch? Im nächsten Duden wird stehen: leben, veraltet für existing.“ Also, nicht einmal mehr auf die deutsche Sprache ist der scheinbar notwendige Verlass.

Und auf menschliche Beziehungen auch nur sehr bedingt, denn „Statistiker haben ausgerechnet, dass ein Ehebett doppelt so lange hält wie eine Ehe. Obwohl das Material“ (des Bettes) „nur noch aus furniertem Abfall besteht.“

Und das Kulturverständnis verliert offenbar auch immer mehr seine ewigen Werte. „Shoppen und koksen, das ist Kultur, und zwar, wie man in diesen Kreisen mit einem originellen Endreim zu sagen pflegt: „pur!“ Dazu lässt sich dann nur noch das Foto eines leeren Kulturinfo-Schaukasten ohne jegliche papierene Reste von Veranstaltungsplakaten präsentieren.

Schon das Inhaltsverzeichnis regt den Appetit mit Titel wie: Für den kleinen Hunger nach Sinn.  Flagge zeigen. Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Humanes Sterben. Altherrenerotik. Nutze deine Restlaufzeit.

Dieses Bilder-Lese-Buch für fantasiebegabte Erwachsene – nicht etwa wegen eines erotischen Inhalts, sondern wegen diverser Erfahrungen, die Text und Bild zum optischen und Lese-Vergnügen werden lassen.

Ein widerstandfähiger Umschlag und Seiten aus widerstandfähigem Papier machen es möglich, dieses Buch jeweils einmal Bild für Bild und Text für Text zu genießen. Ein schnelles Hintereinanderlesen würde den einzelnen Beiträgen und dem darin versteckten hintergründigen Humor in Bild und Text nicht gerecht werden.


Klaus Hansen und Klaus Hansen, Scheinbar klare Verhältnisse, Geschichten und Fotos, Köln 2017, 148 Seiten, € 19,80 zzgl. € 3,00 Porto, zu bestellen bei  klaus.hansen@koeln.de

 

 





Amnesty International und Zärteleiku
Dieter Höss/Klaus Hansen „Aller guten Dinge sind Dreiku“

Wenn zwei ausgewachsene und ältere Querdenker zum dritten Mal im ungewöhnlichen Lang-DIN C 6-Quer-Format Texte und Bilder präsentieren, können dabei nur noch skurrilere  Kleinkunstwerke als bei dem letzten Haiku(h)-Bildband herauskommen.  

Dieter Höss liefert in gewohnter satirischer Manier Texte, die sich Lesern zumeist nur erschließen, wenn sie bereit sind, um nicht nur eine Ecke zu denken.

Und die Bilder Klaus Hansens sind jeweils aus einem fotografischen Blickwinkel geschossen, der Realitäten einfängt, die allerdings nicht real zu sein scheinen und sich daher erst durch mehrfaches Hinschauen verstehen lassen.
Höss beginnt den Band mit einer „Kettengedichtreaktion“ und erläutert darin ausgiebig und zugleich kurzweilig,  was einen japanischen Haiku ausmache.  Er prophezeit darüber hinaus, dass ein Haiku als „deutscher Dreizeiler kein heißes Eisen“ scheut. Und genau an diese Vorhersage hält sich der Autor, wenn er Amnesty International und Metzgereien, Scheinhinrichtungen, Muttertags-Torten, die Narretei, Zärteleien sowie andere vermeintliche Unsagbarkeiten gekonnt in jene notwendigen siebzehn Silben und drei Zeilen des Haikus presst.
So lässt er sich in einem Maffayku über die Verkehrsprobleme in und um seine Wahlheimat Köln aus mit: „Der Schwerlastverkehr/geht über sieben Brücken./Bis gar nichts mehr geht.“ Wie Sänger Peter Maffay das gefallen mag, konnte der Rezensent leider nicht in Erfahrung bringen. Dennoch wäre ein Plakat mit dem Sänger und diesem Dreizeiler vor der unreparierbaren Leverkusener Brücke sicherlich ein auffälliger Hinweis, der auch so manchen Kapitän der Landstraße und Autobahn daran hindern könnte, rückwärts von der Brücke zurück zum nächsten Umleitungsschild zu fahren.
Und selbst als nachhaltiger Ernergiesparer versucht sich Dieter Höss in seinem Standbyku, in dem er mahnend feststellt: „Ständig unter Strom,/ohne noch viel zu bringen./ Das frisst Energie.“
So blödelt er sich ausgesprochen (oder besser ausgedruckt) intelligent durch Politik, Gesellschaft und Privatleben, albert sich bis zur hinteren äußeren Umschlagseite voran, um dort am Ende festzustellen: „Die Versfüße wund./Aller Dreizeiler müde./Doch guter Dinge.“
Die Leser werden vermutlich, dennoch nicht so müde sein und das Querformat gleich zur Seite legen. Bestimmt machen sie sich zu einem zweiten oder gar dritten Durchgang auf, um in Bildern und Versen neue versteckte Wahrheiten zu entdecken, die ihnen das Leben bisher so nicht  beschert hat.
Aller guten Dinge sind Dreiku ist ein literarisch-fotografisches Kleinod für Leser und Bildbetracher, die den Ernst und die Absurdität der derzeitigen Weltlage ernst nehmen wollen, ohne dabei das Lachen und Schmunzeln zu vergessen.

Dieter Höss (Verse), Klaus Hansen (Fotos), Aller guten Dinge sind Dreiku, Köln/Bergisch Gladbach, Herbst 2015, 54 Seiten, € 6,80

Der Band kann bestellt werden bei: Dieter Höss, Marsdorfer Str. 58 – 60, 50858 Köln






Was steckt hinter geistreichen Sprüchen?

Der Fall Aphorismus -  von Andreas Egert

 

Am Umfang liegt es ganz gewiss nicht. Weder an dem des relativ schmalen Buches (131 Seiten) noch an den wenigen Worten, die jeweils sein zum Fall erkorenes Objekt ausmachen.

Auch einen Krimi schrieb Andreas Egert eigentlich nicht. Und doch geht er dem Fall Aphorismus kriminalistisch umsichtig und genau nach, um die Entstehung und Aktualität dieser literarischen Gattung zu ergründen.

Immerhin gilt es zu beweisen, dass ein Aphorismus einen ganzen Roman ersetzen kann. Und wie es scheint nicht selten sogar einen Schelmenroman.

Da werden Worte in möglichst unnachahmlicher Art logisch zu Weisheiten und auch zu Scheinweisheiten geformt, deren Widersprüche sich oft nur mit ganz speziellem und zeitlosem Humor aufdecken und verstehen lassen.

Als Fremdenführer bei spannenden Ausflügen in die Literaturgeschichte sowie in die Psychologie und Philosophie versteht es der Autor kenntnisreich davon zu berichten, was jene kurzen Aphorismen, die manche gar abfällig Sprüche nennen mögen, zu einem fantasie- und lustreichen Nachspüren von Denkern und Hobbydenkern beitragen können.

So fordert Egert – beruflich als freier Autor und Kommunikationsfachkraft in der Werbebranche unterwegs -  u.a. für das „bedrohte aphoristische Geschlecht“ „einen geistreichen Artenschutz für die Gattung jener kritischen Quer- und Widerstandsdenker“, die auf jene geistreichen Sprüche nicht verzichten werden wollen. Zugleich ist er aber auch sicher, dass der Aphorismus auch weiterhin eine unverwüstliche literarische Gattung darstellen wird.

 

Ein nicht gerade anspruchsloses kleines Buch, das seinen Lesern durchaus eine gewisse Vorbildung in den gängigen Geisteswissenschaften abverlangt.

Wer bereit ist, manchen Fachbegriff zu ergooglen oder ihn in Fachbüchern und Lexika nachzuschlagen, wird sicherlich einen entsprechend großen Teil des Falles Aphorismus mit dem erfreulichen Gewinn neuer Sichtweisen aufdecken können.

 

Andreas Egert  Der Fall Aphorismus – Zur Genese und Aktualität einer Gattung, Azur Verlag 2015, 11,80 €HobbyHHobbydenkerH

 



Liebe sinnlich ideologisch

Abgeschlossenes Sammelgebiet – Roman von A.J. Weigoni

 An Liebesgeschichten versuchen und versuchten sich Romanciers immer und immer wieder, denn bekanntermaßen bleibt die Liebe am Ende immer unergründlich und unbeschreiblich.

Auch A.J. Weigoni, vor allem Lyriker und als solcher unweigerlich der Liebe und ihren Begleiterscheinungen zugetan, probiert es mit seinem Roman „Abgeschlossenes Sammelgebiet“ auf eine eher ungewöhnliche Art.

 Nicht lange nach der so genannten Wende und dem Fall der Mauer zwischen der Deutschen Demokratischen und der Bundes-Republik suchen und finden im Zeitraum zwischen dem 9. November 1989 und dem 18. März 1990  damalige Zeitgenossinnen und –genossen ihre ganz eigenen Erklärungen für jenes zwischenmenschlich ungeheuer  anziehende Phänomen.

Einerseits erleben sie sinnhaft ideologisierend und andererseits zugleich sinnlich lüstern Teile ihrer Lebens- und Liebesgeschichten. Und da Liebe in der Regel zunächst einmal zusammenführt, eignet sich die (Wieder-)Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht zuletzt auch für eine Art Liebesbeweis, dem sich jenes abgeschlossene Sammelgebiet DDR teils freiwillig, teils unter Druck und  mit den Mitteln einer friedlichen Revolution öffnete.

Ob jenes erste Verliebtsein unmittelbar nach der Maueröffnung jedoch zur dauerhaften deutsch-deutschen Liebe führen wird, blieb bis zum heutigen Tag offen, zumal viele Liebenden es nach jener Isolierung in ihrem einstigen Staat vorziehen und vorzogen, „in unerforschte Welten aufzubrechen“.

Ein Zitat von Karl Kraus geht dem Romans voraus:  „Die unwahrscheinlichsten  Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.“ Diesem Motto entsprechend lassen sich Charlotte, Jane und Moritz, die Hauptfiguren des atmosphärisch äußerst dichten Romans über ihr Leben, ihren beruflichen Alltag, ihre Liebesversuche und -Gewohnheiten und  das aus, was sie dafür halten.

Der Roman gibt in kurzen Sätzen einen Art Rock’n’Roll-Rhythmus vor und damit den hastigen Takt ständiger Veränderungen, dem heutige wie damalige Zeitgenossen sich offenbar ausgesetzt fühlen.

In Düsseldorf sowie in der „Hauptstadt der DDR“, aber auch bei Fluchten nach Paris und Rügen werden gelebte Tagebücher aufgeblättert. Sie beschreiben und reflektieren anhand vieler ungewöhnlicher Metaphern das dortige Leben der Romanfiguren sowie ihr Denken und Fühlen und bieten es somit den Lesern zum tieferen Mit- und Nachempfinden an.Weigoni nimmt kenntnisreich sowohl die jeweiligen Ideologien und Glaubensrichtungen seiner Figuren als auch ihre künstlerische und berufliche Ausrichtung zum Anlass, wortspielerisch deren Auffassungen und Empfindungen von ihrer Liebe und ihrem Lebens durchzubuchstabieren.

Der Roman wird dadurch zu einem Abbild der 1989-er Generation, die sich abmüht, zwischen Lebenslust und –unlust ihre Rollen in einer „Coolness der Verzweiflung“ zu spielen. Sicherlich ist dem Autor damit auch gelungen, bei der Bewältigung der Vergangenheit der Zweistaatlichkeit und des kalten Krieges behilflich zu sein.

 Manchmal verliert sich Weigoni dabei allerdings im jeweiligen Fachjargon und verlangt den Lesern eine hohe Kenntnis an Fremd- und Fachwörtern ab. Somit ist die Lektüre ohne Wörterbuch und/oder Smartphone sowie „wikipedia“ kaum zufriedenstellend zu bewältigen.

Wer sich jedoch auf diese langsame und intensive Lesart einlassen kann, der wird darüber sicherlich zu einem intellektuellen Hochgenuss ge- und verführt.

 Das Buch ist vor allem politisch und gesellschaftlich  interessierten  Lesern zu empfehlen sowie auch jenen, die sich in der Kunstszene jener Jahre umtun wollen. Da finden – bei aller Liebe - Opern- und Musikliebhaber, Film-Fans, Interessenten der bildenden Kunst und der allgemeinen Kunstkritik sowie anderer Gattungen eine Fülle von Erlebnissen und Denkanregungen.

A.J. Weigoni, Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman, Edition Das Labor – Verlag der Artisten, Bad Mülheim, 2014, 511 Seiten, € 19,80 TB), € 29,80 (Gebundene Ausgabe) 




Hai- und ganz andere Kühe

Dieter Höss/Klaus Hansen „Ein Haiku kommt selten allein“

 

Bis auf einen asiatischen Wasserbüffel findet sich auf den Fotos dieses Lyrik-Bild-Bandes im ungewöhnlichen DIN C 6-Format nicht ein Rindvieh. Und den Haikus von Dieter Höss fehlt das „h“, das die Rechtschreibung einem deutschen Rindvieh abverlangt. Allerdings kann er sich „Die Kühe im Stall“ nicht gänzlich verkneifen. Und während die im Stall bleiben müssen wird „Das Weidengrün, überdüngt/für die Touristen.“

Der satirisch-humorvolle Verseschmied Höss aus Köln – eher durch satirische Gedichte im Simplicissimus und durch Limericks bekannt - und der weltreisende Bergisch Gladbacher Fotograf Klaus Hansen haben dem japanischen Kurzgedicht einen überaus lustvollen Dienst erwiesen. Fernab jener gelegentlich in Deutschland absichtsvoll kontemplativ romantischen Art Haikus zu schreiben, stehen beim Autor wie beim Fotografen gekonnter Wort- und Bildwitz im Vordergrund – gelegentlich fast albern, aber nie ohne Hintersinn.

 

In der japanischen Lyrik schildern Haikus zeitlos – ausgehend von einer bestimmten Jahreszeit – das Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Und das jeweils immer ganz streng in drei Zeilen, in der ersten Zeile mit 5, in der zweiten mit 7 und in der dritten wiederum mit 5 Silben.

In „Ein Haku kommt selten allein“ geht es um Vieles, um Dichter und Denker, Komponisten, Urschrei, Kuppelei, Stammtischwitze sowie Menschliches, allzu Menschliches.

Alphabetisch beginnt es bei Abteiku und endet bei Zauberei- und Zeyku. Und das alles stets in jener unvermeidlichen Abfolge von Zeilen und Silben.

Zwischendrin beim „Meutereiku“ - auch streng der Form gehorchend - erschallt dramatisch „Der Ruf: In den Mast!/Geschlossen meldet die Crew/sind nicht schwindelfrei.“

Selbstverständlich darf bei so vielen, der eigentlichen Art des Haikus entfremdeten Inhalten ein Kuckuckseiku keinesfalls fehlen. Es wirft die in der Weltgeschichte noch unbeantwortete Frage auf „Wer hat Kolumbus/den wildfremden Kontinent/untergeschoben?“ Und immer gehört ein Foto dazu. Hier auf der Seite neben dem Text nutzte eine junge Frau mit lebendigste Mimik den Schlaf eines Straßenhändlers, sich lachend unter leblose Steropur-Schaufensterpuppen zu mischen.

Selbst das Ruhrgebiet wird in dem Lyrik-Bildband nicht vernachlässigt. Im Wanne-Eiku wird es sogar romantisch wie in einem ähnlich lautenden Hit vergangener Schlagermusik: „Nichts ist so hässlich, /dass es nicht heimelig wird, /wenn der Mond aufgeht.“ Und das Foto des mit Krater übersäten Vollmondes hat der Fotograf selbstverständlich dazu geliefert.

Falls dem zukünftigen Leser nicht aufgegangen sein sollte, warum das letzte Gedicht des Bandes Zeyku heißt, findet der unter mancherlei Erläuterungen den Hinweis. „René Zey, deutscher Kinder- und Sachbuchautor“.

Wer jetzt noch den Zaubereiku entzaubern möchte, wird lesen können: „Sein teurer Schlitten/hat mehr Zylinder als er/Karnickel im Hut.“

 

Ein kleiner, aber feiner Lyrik-Bild-Band, der sich bestens in gemütlicher Runde vorlesen lässt und garantiert, dass frau/man die Lacher auf seiner Seite hat. Und die in aller Welt geschossenen Fotos lassen sich dazu bestens vorzeigen.

Dieter Höss (Verse), Klaus Hansen (Fotos), Ein Haiku kommt selten allein, Köln/Bergisch Gladbach, 2014, 60 Seiten, € 6,80

Der Band kann bestellt werden bei: Dieter Höss, Marsdorfer Str. 58 – 60, 50858 Köln




Gewagte Assoziationen

Manfred Enzensperger - eingeschneite hunde 

Bei dem eher unlyrischen Buchtitel „eingeschneite hunde“ könnte der unvoreingenommene potentielle Leser zunächst meinen, Manfred Enzensperger habe seinen Gedichtband für Wintersport- und Tierfreunde geschrieben.
Angenommen, alle Worte, Silben und Buchstaben in diesem Lyrikband wären literarische Schneeflocken, so könnte der suchende Leser zwischen ihnen durchaus diverse Hunde und deren Spuren entdecken. Die „warme pfote eines setterblicks“, „ein schwarzer labrabor retriever“ und ein „tierheimhund“ sowie andere Rasse-, Hof- und Mischlingshunde tauchen immer wieder aus teils fantasiereichen, teils gewagten Assoziationsketten der insgesamt 63 Gedichte auf. Und obwohl er schrieb, „als ginge“ den Autor „die psychoanalyse nichts an“, könnte gerade ein Psychoanalytiker an jenen auch tierischen Assoziationen seine Freude haben und mit kühnen Deutungen einen besonderen Weg durch die verschlungenen Textpfade finden.
Mit einer nahezu atemberaubenden Reise durch diverse Städte, Gegenden, Landschaften und Hotels sowie durch subjektiv empfundene Gegenwarten bietet der Autor, ein überaus geschickter Sprachjongleur, mittels der deutschen Sprache und weiterführender Fach- und Fremdsprachen seinen Mitreisenden Verständliches und Missverständliches als geistiges Reiseproviant an. Immer wieder gelingt es ihm, hinter jeder Kurve und Abzweigung der Reiseroute mit sprachlich-bildlichen Überraschungen aufzuwarten, denn „überall wechselte die landschaft das vokabular“.
Wer „sich im geschwätz einer stadt aus dem staub machen“ will, der muss schon Worte und Wörter wählen, die ihn nicht der Schwatzhaftigkeit verdächtig machen. Und solange nicht „am ende selbst gedanke/im gedankenselbst das stundenlang mit mir/in selbstgedanken“ enden soll, gehört schon eine Meisterschaft dazu, seine Leser an den lyrischen Gedankensprüngen zu beteiligen.
Manfred Enzensperger gelingt es meisterlich.
Als Germanist, Anglist und Fachleiter in der Gymnasiallehrerausbildung verfügt er über ein umfangreiches Vokabular, aus dem er als Lyriker offenbar unbegrenzt schöpfen kann.

Seine Leser müssen allerdings ausreichend Geduld aufbringen, da er zu äußerst ungewöhnlichen Wort- und Sinnkombinationen neigt. Daher sollten die Leser bereit sein, sich auf eine langsame und analysierende Lesart einzulassen und sich dennoch nicht in Grübeleien zu verlieren. Vor allem aber ist Intuition gefragt, da reine Logik Enzenspergers Lyrik kaum erschließt.
So lockt der Autor, sich mit ihm auf einen „prominentenspaziergang auf der millionenallee“ zu begeben. Und wer hofft, dort Prominenten zu begegnen, wird eher durch gewöhnliche Ereignisse enttäuscht, die ausschließlich in ihrer ungewohnten Abfolge überraschen.
Auch wenn es um therapeutische Wirkung zu gehen scheint, heilen diese offenbar weitgehend uneingeschränkten lyrischen Assoziationen ausschließlich von gewohnten Alltagserwartungen. So geschehen auf diesen lyrischen Rund- und Fernreisen nie solche Ereignisse, die erste Zeilen oder Zeilen zuvor zu versprechen scheinen. Immer wieder überraschen gewagte Metaphern und lassen übliche Reiseziele, wie „oostende“,“bruxelles“, der Kölner „alter markt“ zu Stationen poetischer Abenteuerreisen werden.
Da Manfred Enzensperger bereits in vorherigen Gedichtbänden Reisen als Metapher bevorzugte, kann der Leser auch in diesem Lyrikband erwarten, wieder von einem erfahrenen lyrischen Reiseleiter mit auf eine wunderbare Fantasiereise genommen zu werden.
Übrigens muss er dafür wirklich nicht unbedingt Hundeliebhaber und/oder Wintersportfreund sein.
Auch als Reisender, der wärmere Jahreszeiten bevorzugt, wird er kaum auf den Hund und dennoch tierisch auf seine Kosten kommen.

Manfred Enzensperger, „eingeschneite hunde“, Gedichte, Edition Voss im Horlemann-Verlag, Berlin, 2013, 99 Seiten, € 14,90



Folge deiner Fantasie

"bis an den traumrand"
neuer Lyrik-Band von Gisela Becker-Berens

Die Lyrikerin Gisela Becker-Berens hat nicht nur, wie gelegentlich bei Lyrikbüchern üblich,  einfach irgendeinen inspirierenden Titel für ihren neuen Gedichte-Band gewählt. Eher ist „bis an den traumrand“ eine indirekte Gebrauchsanweisung an die Lesewilligen: Komm mit mir  bis in die Nähe der Träume und folge dann deiner eigenen Fantasie.

 

Mit den ersten beiden Kapiteln „ähnlichkeiten“ und „vom erzählen“ nimmt die Autorin (Jahrgang 1946) ihre Leser vor allem mit in die kindliche Vergangenheit.

Doch selbst wenn sie sich eindringlich an die Nachkriegsjahre und die „schwarzweiße blässe der hungerzeiten“ erinnert, regen die beim Lesen entstehenden Bilder dazu an, sich in Situationen der jeweils eigenen Kindheit zu begeben, obwohl die möglicher Weise in gänzlich anderen Zeiten er- und gelebt wurde. Und wie selbstverständlich stellt sich der Leser mit der Autorin gemeinsam die Frage „was hat mich/zu mir gemacht“.

Gisela Becker-Berens nimmt ihre Leser mit auf ihren Lebensweg, der gewiss keiner jener (angeblich so) geraden war, denn unumwunden stellt sie fest: „mein weg ist/nicht immer/leicht/zu finden/nur selten/ist es der/kürzeste“

In zumeist unaufdringlich leiser Tonart verfasst, präsentieren ihre Gedichte durchlebte Geschichten, die der Leser unaufgefordert mit eigenen Gefühlen und daraus entstehenden Erinnerungen und Geschichten fortzusetzen vermag.

Allerdings brechen nahezu unbarmherzig immer wieder Realitäten in die vermeintliche Idylle ein. Und „du riechst benzin/statt warmer erde“

Besonders eindringlich werden diese Einbrüche, wenn Becker-Berens aus der näheren Vergangenheit erzählt.

Gleich einer „fata morgana“ – so die Überschrift des vierten Kapitels – überfallen die Autorin unglaubliche Geschehnisse.

So gibt das vorläufige „protokoll zum einsturz des kölner stadtarchivs“ – sicherlich einer der eindringlichsten Texte dieses Bandes - in skizzenhaften und dennoch treffend genauen Versen wieder, wie das „gedächtnis der stadt“ „ausgelöscht“ wurde.

Auch unser globalisiertes kapitalistisches Wirtschaftssystem – „wachstum – na klar/aber streng ökolgisch“ - bekommt sein Fett ab.

 

In der Mitte des Lyrikbandes erlauben sechs „tanka“ einen komtemplativen Blick in den Garten der Autorin. Diese kurzen (japanischen) Gedichte lassen Ruhe und Entspannung entstehen, die offenbar jene Realitätsüberfälle auszuhalten halfen und helfen.  

Am Schluss gelingt dann ein tröstlicher und hoffnungsvoller Blick auf ein Kind und damit in die Zukunft. „und es wird hell/in deinem gesicht“.

Alles in allem ein ausgewogenes Buch, das zwar seine Brüche hat, aber bei Menschen fühlbare Erlebnisse hinterlässt, wenn sie sich mit Fantasie, Hoffnung und Realitätssinn auf eine erlebnisreiche Lesereise einlassen.

Nicht umsonst schreibt der bekannte Lyriker Jürgen Becker im Klappentext: „Diese Gedichte (…) horchen dem Echo des Vergangenen nach und den Geräuschen des aktuellen Geschehens; sie sprechen von Trauer und Trost und machen einem „Mut für den Tag“.

 

Gisela Becker-Berens, bis an den traumrand, Wiesenburg Verlag, Schweinfurt, 2013, 109 Seiten, € 12.-







Alf Rolla, Liebe 2.0
Schöne neue befriedete Welt
 

Praktizierter Sex in der Öffentlichkeit wird, wenn Alf Rolla in seinem Roman die Zukunft richtig deutete, in wenigen Jahrzehnten keinen Tabubruch mehr darstellen.
Er – und seine Romanfiguren - nennen es klinken. Und alle tun es überall dort, wo sich Gelegenheiten dazu bieten – auf Polstergarnituren in Restaurants und in klimatisierten Bahnhöfen, in Parks und sogar auch noch in Privatwohnungen.
Aber nicht nur Sex sondern möglichst alle Lebensäußerungen werden überwacht durch installierte Kameras des allgegenwärtigen Friedensamtes für Nationale Sicherheit, das Deutschland als schöne neue befriedete Welt regiert.
Zwangsläufig lautet der vorgeschriebene Gruß zwischen deutschen Bürgern „Frieden“.
Inzwischen haben das herrschende Klima und dessen tropische Temperaturen den Meeresspiegel stark ansteigen lassen. Und Münster wurde nach einer mächtigen Flut zu einer Küstenstadt an der Nordsee.
Computer werden durch Gedanken bedient und Überschallgeschwindigkeitszüge, die durch unterirdische Tunnel rasen, verbinden Kontinente. Ab dem Airport Datteln City werden sogar regelmäßig Flüge zum Mars angeboten.
Verkehrsmittel werden von Robotern gefahren und die Polizei setzt ebensolche menschenähnlichen technischen Wunder als Freund und Helfer, vor allem aber als Kontrolleure ein.
Immerhin hat die Liebe überlebt. Zwischen Paaren unterschiedlichen und gleichen Geschlechts. Und Ben Kratzenstein, einer der Protagonisten liebt sogar seinen Klon, der vom Friedensamt gezüchtet und zunächst in einem Kloster versteckt wurde.
Sina Schlüter, die „Regentin“ der Zeitung Emscher Kurier saß wegen Mordes viele Jahre im Gefängnis.
Nach ihrer Entlassung findet sie eine Umwelt vor, die sich durch Technik und Elektronik vollkommen verändert hat. Selbstverständlich bedeutet es für sie eine erhebliche Mühe, sich in dieser „schönen neuen“ Welt zu orientieren oder gar mit deren durchaus komfortablen Errungenschaften umzugehen.
Auch ihre Zeitung – vor dem Gefängnisaufenthalt noch aus Papier – hat sich längst zu einem elektronischen und vom allgegenwärtigen Friedensamt für Nationale Sicherheit  kontrollierten Medium entwickelt.
Die inzwischen 90-jährige „Regentin“ will sich damit nicht abfinden und das, was heute noch Pressefreiheit genannt wird, wieder herstellen.
Dazu flieht sie mit einer Mitarbeiterin nach Österreich, das sich noch manche Freiheiten und Traditionen bewahrt hat.
Von dort aus steuert sie eine Protestbewegung, die schließlich so stark wird, dass sie das rechtslastige diktatorische System in Deutschland stürzen kann.
Nach ihrer Rückkehr in die befreite deutsche Heimat muss sie feststellen, dass ein vom neuen Regime geschaffenes Bürgeramt für die neue Ordnung in Deutschland die Bürger und ihre Freiheiten wiederum einschränkt.
Der Roman endet: „Ja, so etwas wie das Trageverbot für Sonnenbrillen klang natürlich an den Haaren herbeigezogen, aber es war Realität. In Deutschland im Jahr 2040.“
Alf Rolla gelang ein gesellschaftskritischer Liebesroman mit zum Teil ironischen Anspielungen auf aktuelle und zukünftige politische, gesellschaftliche sowie technische Entwicklungen, deren Folgen in seinem Buch kritisch hinterfragt werden.
Es verweist auf die keineswegs neue Erkenntnis, dass Macht  stets nach mehr Machtfülle verlangt, selbst wenn die Machthaber ausgetauscht werden.
Ein Zukunftsroman, der nicht nur unterhalten will, obwohl er äußerst unterhaltend daherkommt.

Alf Rolla, Liebe 2.0 – Verliebt in den eigenen Klon, Traumstunden Verlag, Essen 2012, 261 Seiten, € 9,95



 

A.J. Weigoni, Cyberspasz, a real virtuality

"Alles klappt in ihrem Leben.
Doch nichts glückt."
 

Weigonis Novellenbuch endet mit: „ … übrigens gibts ein Leben nach der Kunst, vielleicht ist es das bessere. Who cares?“

Als ich das Kunstwerk ausgelesen hatte, verspürte ich umgehend die Sehnsucht nach einem (wenigstens) anderen Leben.

Die Novellen hatten mich in eine künstliche Welt medialer Kunst hineingezogen.

Immerhin kostet das 319 Seiten umfassende Buch mich Wochen, da ich es nur langsam lesen und verstehen konnte.

Bei durchaus vorhandenen „Ätschen“-Teilen zieht es immer wieder in intensiv geschilderte Szenen und in nachdenkenswerte Dialoge hinein, die in der jeweilig dazu gehörigen Fachsprache geführt werden. Allein wer diese Szenen nachfühlen und die Dialoge verstehen will, braucht Zeit und nicht selten Fachwörterbücher. Natürlich lassen sich, ganz der real virtuellen Welt dieser Lektüre gehorchend, die meisten den jeweiligen Fachjagons entlehnten Wörter auch stilgerecht ergooglen.

 

Lautmalend verdichtet

Unüberlesbar ist der Autor ein begabter Lyriker. Er versteht es, die Erlebnisse seiner Protagonisten auch lautmalend so zu verdichten, dass er seinen Lesern damit zumutet und ermöglicht, sie immer wieder durch eigene dazu fantasierte Wortbilder und Vermutungen aufzulockern.

In einer dem Kapitalismus dienenden Welt gerät, wenn der Leser sich auf die Folgerungen des Autor einlässt, offenbar alles zum Geschäft und nimmt sowohl als Hobby und als auch als Beruf Liebhaber sowie Profis in seinen Besitz.

Die Mediensprache - einschließlich ihrer mehr oder weniger originellen Werbesprüche und Politphrasen - wird zu beherrschenden Alltagssprache, welche die Muttersprache im eigentlichen Sinne überlagert, verdrängt oder gar zu widerlegen versucht.

 

Krimi und Liebesgeschichten

Weigonis Novellen haben dabei durchaus aufregende Krimi-Anteile. Selbst Liebesgeschichten kommen nicht zu kurz. Dennoch bleiben die daraus entstehenden Spannungshöhepunkte und emotionalen Szenen irgendwo zwischen Realität und Virtualität stecken. Sie hinterlassen den Eindruck, als würden die Protagonisten nicht leben sondern sich gegen eine gewisse Langeweile um ein vermeintlich zeitgemäßes selbst bestimmtes Leben bemühen. Eigentlich aber werden sie gelebt.

 

 

Spannendes Detektivspiel

Für den Leser bleibt das Buch bei aller Verstehensmühe dennoch ein spannendes und verzwicktes Detektiv-Spiel auf der Suche nach einem erfüllteren Leben mit mehr Tiefe – und das umso mehr,  je weiter die handelnden Personen sich davon entfernen.

Der von ihnen angestrebte „Cyberspasz“ gleicht bei allem Bemühen um individuelle Originalität eher seichter Comedy und nicht jenem tiefgründigen Humor, der durchaus noch lebenslustvermittelnd sein könnte.

„Massenmedien“ lässt der Autor feststellen, „forcieren das niedere Niveau, züchten es gar teilweise.“

 

„Alles klappt. Doch nichts glückt.“

Das „utopische Konzept der Eigenverantwortung einer Declaration of Independence als MAGNA CHARTA FÜR DAS ZEITALTER DES WISSENS“ in Weignonis Buch behauptet. „Cyberspace“ sei „das Land des Wissens“, und „dessen Erforschung die wahrste und höchste Berufung der Zvilisation“.

Selbst wenn das für die Zivilisation stimmen mag, drängt sich dem Leser unweigerlich die Frage auf, wie es um unsere Kultur steht.

Bei ihr geht es nur angeblich um Aufklärung und eigentlich um deren Wiederverschleierung durch so genannte Wirtschaftwissenschaften und Medien.

Somit kommt Weigoni über das Zusammenleben seiner Figuren zu dem Fazit:

„Zusammenhang gibt es nur durch Zitate, Wiederholungen, Wörterschleifen und Textspiralen. Alles klappt in ihrem Leben. Doch nichts glückt.“

 

Ein Buch für kritische Leser, das bei allen vermittelten Sach-Inhalten dennoch ein ausgesprochen belletristisches geblieben ist und daher nacherlebbar unsere kapitalistische Bild und Wort verwertende Mediengesellschaft zu durchschauen hilft .

 

A.J. Weigoni, Cyberspasz, a real virtuality, Novellen, Verlag der Artisten, Edition Das Labor, Bad Mühlheim, 2012, 319 Seiten, handsigniert und limitiert € 29,80, TB € 19,80

 

 

 









Günter Helmig

mondsichelkentern

Idylle und Bruch

Schon im Titel seines neuen (insgesamt dritten) Lyrikbandes verdeutlicht Günter Helmig, was er mit seiner Lyrik beabsichtigt. 1941 mitten in den Krieg hineingeboren und auch in den Jahren danach durch harte Realitäten geprägt, hat der Autor es offensichtlich gelernt Idyllen zu misstrauen.
Somit muss ein Symbol verromantisierter heiler Welt – die Mondsichel – selbstverständlich  kentern. Und Schiffbruch auf hoher See kann immerhin das Lebensende bedeuten.
Beinahe alle seine Gedichte, es sind in diesem Band insgesamt 87,  die in über 16 Jahren entstanden, folgen mehr oder weniger dieser Machart und sollen offenbar vor naiver Zukunftsgläubigkeit bewahren. Allerdings gerät ihm das nirgendwo zur Masche und an keiner Stelle dieses Buch wird gar warnend ein drohenden Zeigefinger erhoben.
Helmig gelingt es, seine Leser unter anderem mit wunderschönen Landschaftsbildern zu verführen, ihm in eine heile Welt zu folgen. Diese stellt sich am Ende, ohne dass er dabei in einen depressiv-klagenden Tonfall verfällt, immer wieder als schöne Scheinwelt heraus.
Die „muschel an meinen ohr“ lässt die „brandung alter meere“ aber auch „kriegesgeschrei“ hören, und wenn der „wind verstummt“, erzählen „gräberfelder“ von Kriegstoten.

Helmig kann im übrigen den begeisterten Hobby-Fotografen nicht verleugnen. So leiten fünf seiner stimmungsvollen Fotos die jeweiligen Kapitel des Buches ein. Und als Kamera gewohnter Augenmensch malt er mit Worten zumeist großformatige Bilder, in denen er schließlich auf die eigentlich wichtigen Kleinigkeiten aufmerksam macht.
Dabei kann der „dicke rote“ Zeh der Performance-Künstlerin beim Auftritt während einer Vernissage hervorragend von jener Langeweile ablenken, die solche Ausstellungseröffnungen nicht selten beherrschen. Und wie erfahrende Besucher von Vernissagen längst wissen, ist das Verhalten des Publikums („bart mit sakko und sekt“) dort zumeist ohnehin interessanter als die ausgestellten Kunstobjekte.
Die Wortbilder des Autors sind stets verständlich und doch niemals banal oder gar abgegriffen.
Er lädt die Leser ein, ihn auf seinen Reisen – vor allem auch auf solche in des Autors Innenwelten – zu begleiten. Spaziergänge in der näheren Umgebung seiner Heimat (Bergisch Gladbach) führen zudem gelegentlich in Vergangenheiten.
So „schieben“ „hundert fenster“ von „schloss bensberg“ „unter scharfem blick“ die „brauen hoch“ und zwingen dem Besucher jene stramme Haltung auf, die dort einst Soldaten und nationalsozialistische Eliteschüler einzunehmen hatten.
Doch bei allem gebotenen Ernst lassen andere Texte weder einen Schuss Humor noch versteckte Erotik vermissen und geben dem Lesestoff die für lyrische Genießer notwendige Würze.
Mit „mondsichelkentern“ gelang Günter Helmig ein Lyrikband, der weit mehr ist als nur ein lyrisches Tagebuch. Hier hat ein Zeitzeuge unter anderem niedergeschrieben, was sich in Geschichtsbüchern leider kaum findet: Gefühle, die das Alltagsleben widerspiegeln, wie viele Menschen es kennen und kannten.
Ein Buch, welches abgeneigten Lesern beweisen könnte, dass zeitgenössische Gedichte nicht unbedingt eine unzugängliche Literatur sein müssen, deren Verständnis ausschließlich lyrikbegeisterten Minderheiten vorbehalten ist.

Günter Helmig, mondsichelkentern, Gedichte, Bücken & Sulzer Verlag, Overath-Witten 2012, 113 Seiten, € 11,80



 

Leander Sukov
Warten auf Ahab oder Stadt Liebe Tod

Zwischen Ideologie  und Liebe

 

Landflucht ist zurzeit nicht nur in Deutschland in. Viele streben in die Städte. Der Arbeit, des abwechselnden  Kulturangebots wegen, und um in städtischer Anonymität der sozialen Kontrolle auf dem Land zu entgehen. Aber auch dörfliche Langeweile und der Wunsch nach Abenteuer sind sicherlich Auslöser.
Marie, die Protagonistin in Leander Sukovs Roman, entflieht ihrem verschlafenen und idyllischen Ex-DDR-Dorf, dem Vater, der IM bei der Stasi war, und der Mutter, die „ein Bein hinter sich herzieht“.
Sie flüchtet aus einem Land, in dem viele glaubten, sie wären von morgen, und die nach dem Scheitern des so genannten realen Sozialismus einsehen müssen und nicht unbedingt wollen, dass sie doch Gestrige sein sollen.
Mit Hilfe der Eltern zieht Marie ins „wiedervereinte“ Berlin, in ein Gründerzeithaus mit Balkon zum Hinterhof.
Vater und Mutter kehren danach in ihr Dorf zurück und sie versucht, ihr Leben in der Stadt, die „bunt und grau und laut“ im Gegensatz zur ihrem Herkunftsort ganz und gar nicht schläft.
Dennoch fühlt Marie sich bald einsam und will selbstverständlich nicht einsam sein.
Sie macht sich auf den Weg. Lernt in Kneipen und auf der Straße vor allem Männer kennen. Vom kleinen, aber unreifen Revoluzzer bis zum väterlichen Freund. Mit allen geht sie ins Bett, süchtig nach Wärme und Nähe, doch unfähig zu lieben.
Auch in einer lesbischen Beziehung mit einer Gastwirtin sucht sie vergeblich tiefe Liebesgefühle. Und selbst, wenn sie aufrichtig geliebt wird, kann sie diese Liebe nicht erwidern.
Zugleich ist Marie ein politischer Mensch, der Widerstand gegen Ungerechtigkeit leistet und sich der sozialistischen Ideologie und dem Antifaschismus verbunden fühlt.
Auf der Suche nach Wahrheit, die ihrer Suche nach wahrer Liebe entspricht,  leidet sie immer wieder unter der Verlogenheit unserer gegenwärtigen Verhältnisse, ohne selbst dieser Verlogenheit entgehen zu können. So macht sie vor allem in sexuellen Beziehungen immer wieder Liebe vorspielend mit, wie ihr Vater als IM aus Angst in der DDR Linientreue heuchelnd mitgemacht hat. Ihn verachtet sie dafür, da er nicht aus Überzeugung handelte.
Doch auch sie selbst fühlt sich bei ihrer Heuchelei nicht wohl.
Nachdem sie ein Opfer von Polizeigewalt bei einer Demonstration gegen Rechtsradikale wurde und sich dabei schwere Verletzungen einhandelte, findet sie endlich den Mann, der sie trägt und tragen kann. Bei ihm kann sie sich fallen lassen und zum ersten Mal echte Liebe spüren.
Damit hat der Roman ein Happy end. Allerdings verliert Marie den Geliebten kurz darauf unter tragischen Umständen.
Sukov hat eine dichtgedrängte ereignisreiche Liebesgeschichte einer jungen lebenshungrigen Frau geschrieben, die zwischen ideologischen Ansprüchen und emotionalen Wünschen einen Lebensweg sucht. Zwischen diesen Widersprüchen ringt sie sowohl um die eigene politische als auch menschliche Glaubwürdigkeit.
Und im Epilog findet sie dann endlich zu einer Identität, mit der sie für sich feststellen und zugleich bitten kann:  „Nennt mich Marie. Ich bin keine von den Anderen“… . „Lasst mich allein.“
Sukovs Roman ist ein gelungener Versuch, die jüngere deutsche Vergangenheit belletristisch aufzuarbeiten.
Er lässt tiefe Einblicke in das Innenleben jener zu, die ihre Wurzeln in der vermutet gesellschaftlich fortschrittlichen DDR hatten und die sich jetzt dem Kapitalismus des Westens ausgeliefert sehen, der längst einer ausbeuterischen Vergangenheit angehören sollte..
Leser, die mehr und vor allem auch emotional von der nur bedingt gelungenen Vereinigung der einstigen beiden deutschen Staaten verstehen wollen, kann er eine äußerst erkenntnisreiche Lektüre werden. Doch auch Leser, die eine ehrliche und moderne Liebesgeschichte lesen wollen, in der es um das Spannungsfeld zwischen Geborgenheit und Freiheit geht, werden den Roman mit großem Gewinn lesen können.

Leander Sukov, Warten auf Ahab oder Stadt Liebe Tod, Kulturmaschinen Verlag, Berlin, 2012, 279 S., € 17,80







Flussschifffahrt mit Geschichtskunde und Mord
Michal Hvorecky, Tod auf der Donau

 

Die Donau ist sicherlich der europäische Schicksalsfluss. Besonders natürlich für einen slowakischen Schriftsteller und dessen Herkunftsland. Immerhin wuchs er an diesem Fluss auf und lebte viele Jahre an seinem Ufer.

Michal Hvorecky, geboren in Bratislava,  besaß jedenfalls den Mut, mit „Tod auf der Donau“ einen vielschichtigen Roman zu schreiben, der zugleich als Liebessgeschichte, Groteske, Krimi und Reisebeschreibung daherkommt. Dennoch gibt er keinerlei  Anlass, ihm vorzuwerfen, zu viel auf einmal gewollt zu haben. Alles fügt sich zusammen zu einer gekonnten Mischung, die zudem noch ganz nebenbei Geschichtsunterricht über diverse Geschehnisse von Jahrhunderten erteilt. Und selbstverständlich ist dieser Geschichtsunterricht nicht jener, bei dem sich viele tatsächliche und potentielle Leser in ihrer Schulzeit gelangweiligt haben könnten, denn das Buch lässt in keinem seiner Kapitel Spannung vermissen .

Die Hauptfigur Martin Roy, diplomierter, aber mittelloser Übersetzer aus Bratislava, muss sich als Tour-Direktor bei einer amerikanischen Kreuzfahrtgesellschaft verdingen. Die Schiffsreisenden, die er bei der Fahrt eines Luxusliners von Regensburg bis zur Mündung ins Schwarze Meer zu betreuen hat, sind mehr oder weniger gebrechliche amerikanische Senioren. Übergewichtig, bequem, dumm, zugleich arrogant und auch wieder dankbar für jedes nicht allzu anstrengende Abenteuer.

Als historische Analphabeten vergleichen sie eine Römergründung wie Regensburg mit der Schönheit von Frankfort/Kentucky, wissen nicht, wer Mozart war, und vermuten, das KZ in Mauthausen, sei nicht von Nazis sondern von Kommunisten errichtet worden. Und Barock lassen sie sich als politische Diktatur erklären, die sie ganz gewiss in den USA nicht haben wollen.

Martin ist abhängig von der abschließenden Beurteilung seiner Fahrgäste. Die am Ende der Reise auszufüllenden Fragebögen werden von seinem Arbeitgeber genauestens ausgewertet und entscheiden über seine Weiterbeschäftigung. So bewundert er seine Senioren für ihr umfangreiches Wissen und bedenkt sie überreichlich mit fantasiereichen Komplimenten.

Damit treibt die Groteske immer wieder auf zwischenzeitliche Höhepunkte kultureller Dekadenz zu. Sie drängen dem Leser unweigerlich die Frage auf, wie lange denn Bürger der USA, der angeblich mächtigsten Nation der Welt dem Untergang noch widerstehen können.

Nicht von ungefähr führt der Luxusliner den Namen „Amerika“. Die Passagiere werden von einem Schiffskoch, einem jungen ungarischen Pianisten, dem um kein falsches Lob verlegenen Martin und diversem sonstigen Personal mit reichhaltigem Luxus verwöhnt. DA nimmt es kaum Wunder, dass die naiven Senioren, sobald sie das Schiff zu wohl organisierten Ausflügen verlassen, willigste Opfer osteuropäischer Geschäftsmacher werden. Für jene gewieften Touristik-Experten ist es ein Leichtes, die jeglicher Realität entrückten Amerikaner mit Billigprodukten übers Ohr zu hauen.

In den grotesken Reiseroman ist eine nicht gerade unkomplizierte und deswegen nicht weniger spannende  Beziehungsgeschichte eingespielt.

Mona, Martins einstige Jugendfreundin und spätere Dauergefährtin, erschleicht sich während der Schifffahrt zunächst als blinde Passagierin eine Mitreisegelegenheit. Die Liebe der Beiden beginnt sich erneut zu entwickeln. Gleichzeitig lässt sich Mona auf einen der amerikanischen Passagiere ein.

Und schließlich liefern zwei Morde, auf die sich die Geschehnisse an Bord zwangsläufig zubewegen, Stoff für einen aufregenden Krimi.

Nicht nur durch den alkoholsüchtigen Kapitän, der seinen Dienst letztlich gerade noch korrekt versehen kann, wird schon frühzeitig angedeutet, dass die „America“ auf den Untergang zusteuert.

Immerhin endet wenigstens die Beziehung von Mona und Martin in einem Happy End, allerdings einem weniger glücklichen.

Insgesamt gelang Michal Hvorecky nach seinen vorherigen nicht weniger lesenswerten Büchern hier ein Roman, der noch umfassender und schonungsloser derzeitige gesellschaftliche Traumwelten lächerlich macht.

Leser, die sowohl eine spannende Geschichte als auch gut recherchierte historische Lektüre gepaart mit treffenden gesellschaftpolitischen Seitenhieben lieben, werden ihre Freude an dem Buch haben.


Michal Hvorecky, Tod auf der Donau, aus dem Slowakisch übersetzt von Michael Stavaric, Klett-Cotta Tropen, Stuttgart 2012, 240 Seiten, gebunden, €  19,95

 



garantiert gefühlsecht
                                                                        

 

von Petra Christine Schiefer

 

Wer gewisse lebensspendende sensible Organe vor schädlichen Einflüssen schützen will, ohne ihnen eine lustbetonte Wirkung zu nehmen, der bewirbt sie – so wie Petra Christine Schiefer ihr Buch - mit dem Prädikat „garantiert gefühlsecht“.

In Schiefers Band mit „gedichten auf biegen und sprechen“ geht es um eine Lyrik verletzlicher Gefühle, die besondere Lust auf Vorlesen macht, denn gerade gesprochen entfalten ihre Gedichte erst die volle Wirkung.

Wer die Autorin kennt, weiß zudem, dass sie gern und engagiert Theater spielt und eindringlich zu  rezitieren versteht.

Dennoch lösen ihre Gedichte auch im stillen Leser Wirkungen aus, die in der Autorin entstanden. „auch in mir/regt sich’s zaghaft“ schreibt sie in ihrem Eingangsgedicht „aufbruchstimmung“,blättert Ängste, Liebe, Freude, Empörung und Wut auf und lässt diese in zumeist kürzeren und daher stark verdichteten Texten nachempfinden.

Aber auch manches längere Gedicht vermittelt in der Regel erfreulich unkompliziert und unverkünstelt „persönliches“, „sinnliches“, „zwischenmenschliches“, „weltliches“ und „so fort laufendes“ „vom werden“, wie sie es in den Überschriften der fünf Kapitel aufzählt.

Einige Texte widmet sie Dichtern wie Erich Fried und bildenden Künstlern wie Maria Schätzmüller-Lukas. „alle antennen/ausgefahren“ empfing die Autorin offenbar nicht nur innere sondern auch Umwelt-Signale, denen sie mit ihren Worten ganz eigene Deutungen zuschreibt.

Dabei versteht sie es, mit Hilfe ihres tiefgründigen Humors  und durch ihre freien Wortmelodien manches eher belastende Gefühl mit  Leichtigkeit schwingen zu lassen. 

Selbst Abhängigkeiten, die einer gewissen Tragik nicht entbehren, löst sie zwar nicht auf, findet aber Metaphern, die nicht einmal tragikomisch daherkommen.  

So ist „das glück“ eine wurst/an langer stange hängt’s/vor unsren nasen“. Und wir hecheln ihm ein Leben lang hinterher.

Selbstverständlich werden auch unangenehme Realitäten nicht ausgespart, da als „alles nichts war/als ein flimmernder bildschirm/blieb ihm nur noch/sich abzuschalten“.

Petra Christine Schiefer schafft durch ihre Gedichte keine vertröstenden Wunsch- und Traumwelten, obwohl durchaus die Sehnsucht nach solchen gelegentlich durchscheint.

Sie greift Alltag auf, gibt ihm durch ihre lyrische Interpretation die ihr eigenen Bedeutungen und wirft damit einen ureigenen Blick auf die Wirklichkeit, die nicht in allem realistisch aber dennoch nie gänzlich unrealistisch daher kommt.

Ihre Lyrik hebt sich wohltuend von denen jener gefühlstriefenden Herz-Schmerz-Dichter ab und ist dennoch voller Herz und nie ganz schmerzfrei.

Ihr ist damit ein Buch für den Nachttisch gelungen, in das Leser sich vor dem Einschlafen Abend für Abend in eines ihrer Gedicht vertiefen können. Manchen Text lohnt es sich gar mehrfach zu lesen. Und das auch zu früheren Tageszeiten.

Selbst wenn sich hier eine Frau als Autorin mitteilt, so stecken in dem 95 Seiten umfassenden Gedichtband durchaus auch nachdenkenswerte Anregungen und Dialog-Angebote für Männer.

Ein äußerlich eher unauffällig aufgemachtes Buch, dessen Inhalt aber viele Leserinnen und Leser verdient, die bereit sind, sich neben reißerischen Krimis und spannenden Erzählungen einmal beschaulicher (aber nicht betulicher) Lyrik zuzuwenden.


Petra Christine Schiefer   garantiert gefühlsecht – gedichte auf biegen und sprechen, Rass‘sche Verlagsgesellschaft, Bergisch Gladbach 2011, 95 Seiten, €  12.90




A. J. Weigoni   Zombies

Tote Lebende

Eigentlich sind Zombies lebende Tote.

Vertieft sich allerdings der Leser in A.J. Weigonis Kurzgeschichtenband Zombies, glaubt er sich eher von toten Lebenden umgeben, die als willenlose Marionetten an Fäden von Hintermännern und –frauen zu hängen scheinen, um auf diversen gesellschaftlichen Kleinbühnen dem zu folgen, was Trendsetter, Politiker, Journalisten, Autoren, Regisseure und andere wie auch immer geartete Puppenspieler von ihnen erwarten.

Der Autor, ob nun als Dompteur menschlicher Bestien oder als deren schlichter Beobachter unterwegs, führt den Leser durch einen nicht gerade abgesicherten Käfig, in dem menschliche Monster und normale Zeitgenossen ihren Ängsten, Leidenschaften und Alltagsgrausamkeiten ausgeliefert sind.

Im Tonfall banal und unaufgeregt, regt Weigoni dennoch auf und findet  je nach Inhalt der jeweiligen kurzen Erzählungen eine ureigene Sprache, die seine Figuren und deren Lebensumwelt äußerst zutreffend charakterisiert. Dabei schöpft er offenbar aus einem schier unglaublichen Vokabel-Repertiore eines Sprachgenies.

Seine bedauernswerten Gestalten stellt Weigoni durch grotesken und rabenschwarzen Humor als rettungslose Verlierer dar, die unaufhaltsam global apokalyptischen  Niedergangsszenarien ausgeliefert zu sein scheinen. Angesichts der Reaktorkatastrophen im japanischen Fukushima kommen somit ein Teil dieser Szenarien den Realitäten erschreckend nah.

Der Autor beklagt – allerdings ohne wirklich zu klagen - Identitätsverluste, stellt Geschlechtrerrollen in Frage. Er  setzt unter anderem in der Erzählung „Werbeblock“ einem „Selbst- und Fremddarsteller“ und dessen „veraltetem Image den coolen Dandy entgegen, der sich vor dem Spiegel selbst entwirft. Ein in Würde gealtertes Symbol für galantes Machotum…“  Der verunsicherte Mann bleibt somit auch nicht verschont.

„Macht, was ihr wollt, aber macht es profitabel!“ ist offenbar „der Leitgedanke“, dem in der kapitalistischen Welt alle Figuren Weigonis mehr oder weniger offensichtlich folgen.

Der Sprachjongleur nimmt seine Leser mit auf eine abenteuerliche Reise „in popmoderner Grossraumprosa“, lässt sie an vielen Stationen aussteigen und führt sie in der Umgebung herum. Dabei macht er sie zu Voyeuren gewöhnlicher Obzönitäten, die er als Reiseführer sprachlich ungewöhnlichst präsentiert.

Das Buch eignet sich weniger als entspannende Urlaubs- oder Feierabendlektüre, wohl aber als Lesestoff für gesellschaftskritische Realisten und Surrealisten, die gern in Happen Bücher mit kurzen Erzählungen lesen und durchaus ahnen, dass Menschen nur äußerst bedingt aus ihrer Vergangenheit schlauer werden.

Beinahe hoffnungsvoll philosophisch und auffordernd endet das Buch mit der Feststellung: „Die Vergangenheit wird begehbar, ein Zurück ist kein Rückschritt. Ankunft ist ein Prozess, der nicht enden wird.“ Damit lässt Weigoni seine Leser dann doch nicht vollkommen hoffnungs- und orientierungslos im Chaos (oder um es aktuell auszudrücken) im atomaren Regen stehend zurück.

A.J. Weigoni, Zombies, Verlage der Artisten, Edition Das Labor, Bad Mülheim, 2010, Paperback, 319 Seiten – limitierte und handsignierte Ausgabe in gebundener Form

 




Udo Weinbörner
Der General des Bey

 


Wer heute auf der nordfriesischen Insel Amrum unweit von Sylt seinen Urlaub verbringt, findet auf dem Friedhof der Kirche in einem Dorf namens Nebel eng beschriebene Grabsteine, auf denen die Nachwelt etwas über die Lebensgeschichten der dort beerdigten Seefahrer lesen kann.  Die ungaublich ereignisreiche Geschichte des einheimischen Schiffsjungen Hark Olufs ließe sich allerdings kaum, obwohl auch er in Nebel begraben liegt, auf einem Grabstein verewigen. Dafür brauchte es einen historischen Abenteuerroman, wie ihn Udo Weinbörner schrieb.

Der Autor arbeitet hauptberuflich in Bonn als Referatsleiter im Bundesamt für Justiz mit dem Aufgabenbereich „Internationale Zivilrechtshilfe und Forschung“. Nicht von ungefähr interessierte ihn vermutlich auch deswegen das Schicksal des entführten friesischen Schiffsjungen.

Inzwischen ist Hark Olufs seit über 250 Jahren tot. Dennoch kennt jeder Amrumer seine unglaublichen Abenteuer. Die beginnen damit, dass er sich der Fünfzehnjährige gerade auf seiner Nordsee-Insel frisch und heimlich in Antje verliebt und unmittelbar danach auf der Dreimastbark „Hoffnung“ anheuert. Die Bark wird im Jahre 1724 vor der englischen Küste von algerischen Piraten gekapert. Hark wird mit seinen Mannschaftskameraden gefangen genommen und auf dem Sklavenmarkt von Algier mehrfach hintereinander verkauft. Schließlich gerät er als Kaffeeschwenker an den Hof des Bey von Constantine. Dort gelingt ihm eine erstaunlich schnelle Karriere in allerhöchste Kreise. So steigt er nach wenigen Jahren zunächst Schatzmeister und  später General sowie Oberbefehlshaber der Kavallerie des Bey auf. Obwohl er immer noch an Antje denken muss, verliebt er sich in eine vornehme orientalische Schönheit und nimmt sie sogar zur Frau.

Liebe und Reichtum, aber vor allem zunächst das überharte Leben an Bord des Handels- und der Piratenschiffe, die Qualen, die er als Sklave auszuhalten hat, Intrigen und andere Machtspiele am Hof, die Grausamkeiten in den Kriegen, die er für den Bey zu führen hat, sowie die geheimisvollen Gewohnheiten der orientalisch-islamischen Kultur bringen den Norddeutschen immer wieder an lebensgefährlich Abgründe. Mit Klugheit, Geschick und Zähigkeit gelingt es ihm, alle Gefahren zu überleben.

Meisterlich versteht es der Autor, seine Leser in jene vergangenen Zeiten und befremdlichen Gewohnheiten, in glückliche  und widersprüchliche Gefühle hinein zu ziehen. Ja, er schuf im Grunde sogar einen Roman, der beispielhaft aufzeigt, wie sehr sich einst ein Fremder an eine ihm ungewohnte Kultur anpassen kann, ohne seine eigentliche Identität zu verlieren. Damit entbehrt das Buch nicht einer gewissen Aktualität, obwohl damals der Begriff Bürger mit Migrationshintergrund mit Sicherheit noch gänzlich unbekannt war.

Weinbörner gelang ein ungewöhnlich spannendes Buch über einen mutigen Amrumer Schiffsjungen, der die Hoffnung auf die Rückkehr zu seiner heimatlichen Insel nie aufgab und dem schließlich auch die Heimkehr  nach Süddorf auf Amrum glückt. Dort stirbt der historische Hark Olufs in seinem 46. Lebensjahr.

 

Udo Weinbörner, Der General des Bey, Das abenteuerliche Leben des  Amrumer Schiffsjungen Hark Olufs, Roman, Horlemann Verlag, Bad Honnef, 2010, 287 Seiten, gebunden, € 19,90

 


Ranjith Henayaka
Mit dem Wind fliehen

Zwischen Folter und Freiheit


Die meisten Bürger der Bundesrepublik Deutschland meinen in einem Staat zu leben, der Menschenwürde und die Menschenrechte besonders achtet. Wer allerdings den Roman des Tamilen Ranjitth Henayaka liest, in dem er die gesellschaftlichen Verhältnisse des Inselstaates Sri Lanka vor der Südspitze Indiens mit denen im Herzen Europas vergleicht, dem fallen durchaus gewisse Ähnlichkeiten auf, die ein hier lebender Normalbürger nicht in seinem Staat vermuten würde.

In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts kämpfen in Sri Lanka tamilische Guerillagruppen für einen unabhängigen Staat. Doch diese Gruppierungen rivalisieren zum Teil untereinander und schrecken keineswegs vor bestialischen Greueltaten zurück. Nicht wenige der Aufständischen geraten dabei zwischen die Fronten. So auch der junge Freiheitskämpfer Nathan.  Er wird nicht nur von gnadenlosen Gewalttätern brutal gefoltert sondern schließlich ständig von seinen Gegnern verfolgt, die ihm nach dem Leben trachten. Da ihm in dem Inselstaat kein Ausweg bleibt, beschließt er nach Deutschland zu fliehen. Über einige Umwege - unter anderem auch durch die damalige DDR-  gelingt ihm die Flucht in die Bundesrepublik. Den dortigen Ausländer-Behördendschungel, in dem er sich nur unter großen Mühen zurecht findet, erlebt er als äußerst schikanös. Seine Erwartungen an einen europäisch-demokratischen Staat werden so vielfach enttäuscht.

Es vergehen Jahre, bis endlich seine Frau Kamala und seine kleine Tochter Mira, die unter den unüberschaubaren und gewalttätigen Verhältnissen in Sri Lanka leiden, nach entbehrungs- und qualvoller Flucht Deutschland erreichen. Kamala wird sowohl in Sri Lanka von einem gegnerischen Kämpfer als auch auf der Flucht von Schleppern vergewaltigt.

Trotz aller grausamen Erfahrungen genießt die kleine Familie überglücklich,  in München wieder vereint zu sein. Doch selbst hier werden ihre Hoffnungen auf ein friedliches, freies und menschenwürdiges Leben enttäuscht. Neonazis bedrohen die Flüchtlingsfamilie und greifen gewaltsam in ihr Leben ein. Sie stecken ein  Flüchtlingswohnheim in Brand. Und nicht nur dabei verlieren Nathan, Kamala und Mira wie in ihrem einstigen Heimatland auch in Deutschland, in dem sie Sicherheit zu finden glaubten, Landsleute, Freunde und Bekannte durch unmenschliche Gräueltaten.

Der Autor Ranjith Heneyaka, selbst 1951 in Sri Lanka geboren, dort politisch aktiv und wegen der Teilnahme am Jugendaufstand 1971 mehrere Jahre im Gefängnis, emigrierte 1980 nach Deutschland. Er kennt das Leben und Leiden seiner Romanfiguren aus eigenem schmerzlichen Erleben. Heneyaka lässt seine Leser eine eher verborgene und verdrängte Realität entdecken und nacherleben, die viele allenfalls aus Statistiken und aus den Medien erfahren. Bei ihm spürt der Leser nahezu unmittelbar, was es bedeutet, um Leib, Leben und die eigene menschliche Würde fürchten zu müssen. Somit verdient es sein beeindruckender Roman, ein beachtenswerter Beitrag zur Diskussion über Migration, Fremdenfeindlichkeit und Integration in Deutschland zu werden.


Ranjiith Henayaka, Mit dem Wind fliehen, Roman aus Sri Lanka, Horlemann Verlag, Bad Honnef, 2010, 319 Seiten, gebunden, € 19,90

  






Gisela Becker-Berens 
hoffnung in blassorange 

Lyrische Farbspiele

Die schillernden Farbspiele beginnen bereits auf dem Einband. „hoffnung in blassorange“ kommt selbstredend auf blassorange gefärbter Pappe daher, allerdings kontrastiert durch ein mit kräftigen Farben gemaltes Titelbild und auf der Rückseite mit dem Porträtfoto der Autorin, auf dem sie einen keineswegs blass orangenen Pullover trägt. Gisela Becker-Berens, an ihrem Wohnort Bergisch Gladbach und in dessen Umgebung längst keine unbekannte Lyrikerin mehr, malt in ihrem Buch Wortbilder sowohl mit strahlender Leuchtkraft als auch in dezenten Pastelltönen oder Aquarellfarben. Und genau diese parodoxer Weise verbindenden Kontraste machen den eigentlichen Reiz ihrer Lyrik aus. Nicht von ungefähr trägt ihr erstes Gedicht den Titel „blaue blume“. Die Blume der Hoffnung vermutet die Autorin „jenseits der schatten“ oder gar „auf der rückseite des mondes“. Und dem vollen Blau folgt im nächsten Gedicht „herbst-zeit-lose“ „im fahlen licht des morgens“ schon ein zartes Aquarell. Im dritten Gedicht wiederum starb ein Schmetterling im „spinnennetz“, der „ungebrochen“ auf seinen Fügeln „das auge des sommers“ trägt. Becker-Berens Texte, weit jenseits falscher Sentimentalitäten, halten sich stets auf zwischen unbezwingbar sinnlichem Optimismus und den auch harten Realitäten des Lebens. Und selbstverständlich geht es dabei immer auch wieder um Liebe und Erotik. Die Texte ergehen sich einerseits in Geheimnissen „wie eine schnecke so schlüpfrig/wie öl das durch die finger rinnt/und flecken hinterlässt“. Sie entführen in Märchen, in denen Rapunzel ihr langes Haar als Liebesleiter anbietet. Aber sie lassen auch mit dem Bus durch die „graue stadt“ fahren und die Folgen „atlantischer tiefausläufer“ fürchten. Einerseits verführen sie, vollkommen einzutauchen in die sinnliche Pracht der Natur, und verharren andererseits in sensibel mit feinstem Pinsel gemalten Metaphern, die gekonnte Lyrik auszeichnen. Und wie könnte es anders sein: Der Lyrikband endet schließlich mit einem farbenprächtigen Bekenntnis zur Lebenslust. „tanzen möchte ich“ „im wind mein gesicht“ „grüne erde in mir/blauer ozean“. Leserinnen und Leser, die nie die Hoffnung aufgeben und immer einen gangbaren Ausweg finden wollen, stoßen in diesem Lyrikband in nahezu jedem Gedicht auf einen versteckten lyrischen Wegweiser. 

Gisela Becker-Berens, hoffnung in blassorange, Gedichte, Wiesenburg Verlag, Schweinfurt 2008, 116 Seiten, Paperback, € 12,90


Zwänge, Ängste, Leidenschaften
Körk! 
Romanerstling von Vera Hesse

Zu einem entspannten und zugleich spannenden Spaziergang durch Neurosengärten und –treibhäuser lädt Roman-Debütantin Vera Hesse Leserinnen und Leser ein, die sich mit Vergnügen einem Antiheldenepos widmen wollen. Doch nicht nur die Flora in diesen über- und unüberdachten Gärten entwickelt sich zunächst prächtig. Auch die Tierwelt – vor allem die der Insekten – hat ihre ganz spezielle Wirkung auf menschliche Wesen, die sich (immer noch) für die Vollendung der Schöpfung halten.    

Georg Schneider (46), von persönlichen Krisen heftigst geschüttelt und dennoch leidenschaftlich starr, umtriebig triebhaft, sehnsüchtig süchtig und zwanghaft phobisch, will fast alles, nur Fremdes und Neues ist ihm beinahe ausnahmslos suspekt. Eisern hält er sich und den meisten seiner Macken die Treue und langweilt sich, in der Mitte seines Lebens angekommen, bereits dem Tod entgegen. „Als er in diesem Seelenloch vor sich hin brütete und kein Lichtstrahl mehr zu ihm drang“, suchte er etwas, das groß genug war, dieses Loch zu stopfen.

Als Lebensersatz schlug er sich zunächst mit einer Wochenzeitung herum, die ihm – leider nur vermeintlich – das pralle Leben ins Haus lieferte. Und zwangsläufig gelang es ihm dabei nicht, zwischen wichtiger und unwichtiger (Zeitungs-)Information zu unterscheiden. So konnte er bereits gelesene Zeitungen nicht wegwerfen. Bei seinem Kampf, die vielfältigen Informationen zu ordnen und zu archivieren, unterlag er und wurde zum Informationsmessie.

Während bei anderen Menschen Leidensdruck ausreichend Anlass zu positiven Veränderungen bietet, kommt Georg ausgerechnet seine leidenschaftliche Insekten-Phobie zur Hilfe, die ihn jedoch zunächst auf direktem Weg in die Katastrophe taumeln lässt.

Der bisexuelle Georg hatte es mit einem Schwulen ausprobiert und will es gerade wieder mit einer für ihn äußerst reizvollen Frau versuchen. Da legt ihm ein zunächst scheinbar nicht zu ergründender Zufall die Riesenkakerlake Körk ins Bett. Auch Körk ist auf seine Art liebesbedürftig. Und da Georg zwanghaft loyal reagiert, gibt ihm das neue Haustier manche Gelegenheit, seine Treue zu dem Rieseninsekt zu beweisen.

Der Leser mag zwar an Kafka erinnert sein. Doch Körk durchlebt keine Verwandlung. Dafür wandelt sich schließlich Georg allmählich. Allerdings nicht zum Käfer, sondern durchaus zu seinen Gunsten in einen liebenswerten Mann.

Selbst wenn Happyends in modernen ernsthaften Romanen eher nicht mehr „in“ sind, ist der Ausgang dieses äußerst skurrilen Entwicklungsromans durchaus von beglückender Wirkung für Georg und für Leserinnen und Leser.

Für alle, die das hohe Lied der Liebe und Freundschaft weniger gern in schwülstigen Opern oder gar Operetten genießen, lässt die Autorin – in ganz eigener Sprachmelodie – eher gelungene Parodien von Alltagsliedern erklingen.

Obwohl Vera Hesse in jedem Fall mit psychologischem Tiefgang daherkommt, bringt sie mit ihrem Roman nicht nur Männer in persönlichen Krisen sowie Paare im Beziehungsclinch trotzdem zum Lachen. Aber auch vor und nach Krisen kann der Roman – vorzugsweise im Bett gelesen – seine humorvoll entspannende und damit heilsame Wirkung entwickeln.

 

Vera Hesse, Körk!, Roman, van Aaken Verlag Köln 2008, 249 Seiten, € 12, 95 

 

 


(Un-)Politische Erotik

 Michal Hvorecky  ESKORTA

Wer könnte über einen politisch desinteressierten Callboy einen erotischen und zugleich hochpolitischen sowie spannenden Roman schreiben? Ein junger Autor, vielleicht, der in einem sozialistischen Überwachungsstaat aufwuchs und dort lernte, unerlaubte politische Aussagen geschickt in Metaphern zu verstecken?

Michal Hvorecky wurde 1976 in der sozialistischen tschechoslowakischen Republik geboren und gelangte über die vom realen Sozialismus zunächst nur zögerlich befreite Slowakei hinein ins bis heute immer noch nicht einige Europa. Damit musste er auch seinen ganz persönlichen Weg in den Turbokapitalismus und die globalisierte Welt finden. Und jene grotesken Entwicklungen die globalisierte Neu-Europäer zu verkraften haben, lassen sich offenbar in grotesken Romanen bestens metaphernreich aufarbeiten. Schließlich war bereits Hvoreckys erster Roman „CITY: Der unwahrscheinlichste aller Orte“ ein mehr als gelungener Versuch, der europäischen Gesellschaft den Zerrspiegel vorzuhalten, um schön geredete politische Verhältnisse in drastischer Deutlichkeit mit harter Wirklichkeit zu konfrontieren.    

 

Michal Kirchner, der Protagonist seines neuen Romans, ein hoffnungsvoller junger Mann aus Bratislava, entsprossen einer Zweckehe homosexueller Eltern, hat schon als Kind die skrupellose Überwachung durch den tschechoslowakischen Geheimdienst miterlebt. Er macht plötzlich auf dem freien Markt Karriere, eine sehr steile Gipfel stürmende und später eine nicht weniger steile in Richtung Abgrund.

Bei der global agierenden Begleitagentur ESKORTA ist er diskret zu buchen und steht Frauen aus gehobenen Schichten professionell und nahezu grenzenlos zur Verfügung. Michal geht mit ihnen einkaufen, in Drei-Sterne-Restaurants, in Konzerte und selbstverständlich als gut aussehender und ungewöhnlich potenter junger Liebhaber auch ins Bett. Er berät die Damen in Schönheitsfragen, fördert mit Komplimenten ihr Selbstvertrauen, leistet seelischen Beistand, ist ihr aufmerksamster Zuhörer und immer besser als die jeweils angetrauten Ehemänner. Alles gegen zunächst großzügigste Gagen.

Natürlich gilt gerade für Callboys, dass ein agiler Arbeitnehmer ab seinem dreissigsten Lebensjahr allmählich als weniger leistungsfähig eingestuft wird. Die zunächst steile Aufwärtskarriere flacht ab, bewegt sich noch eine Zeit lang auf einem horizontalen Höhenweg, um sich schließlich gesellschaftlichen Abgründen zuzuneigen. Alles fast wie im richtigen bürgerlichen Leben…

Und welch ein Zufall: Hvoreckys  Buch kommt zeitgerecht mitten in den Konjunkturabschwung einer Weltwirtschaftskrise und enthält durchaus Lösungsvorschläge für krisengeschüttelte Europäer, ohne auch nur ansatzweise im Oberlehrerton Lebensweisheiten oder gar ökonomische Erkenntnisse zu verbreiten.

Ein unpolitisch politischer Roman, grotesk und dennoch (oder gerade deswegen) voller Realitäten.   

 

Michal Hvorecky, ESKORTA, Roman, aus dem Slowakischen übersetzt von Mirko Kraetsch, Klett-Cotta 2009 Tropen, 250 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, € 19.90

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 Rüdiger Posth  "Gefühle regieren den Alltag"

Vertrauensbildende Maßnahmen für Kinder

In seinem Buch „Gefühle regieren den Alltag“ setzt sich Rüdiger Posth eingehend mit der Problematik der „schwierigen Kindern zwischen Angst und Aggression“ auseinander.

Der Autor führt Erkenntnisse der Hirnforschung, der Entwicklungspsychologie und seine Praxiserfahrungen als Kinder- und Jugendarzt sowie –therapeut zusammen und weist anhand der Bindungstheorie nach, wie wichtig gerade in frühkindlichen Entwicklungsstadien

einfühlsame Eltern und zuverlässige Bezugspersonen sind. Sie legen die Grundlage für eine gesunde Entwicklung des Selbstbewusstseins und sind Quelle jenes Urvertrauens das Kinder später mit Selbstvertrauen auf ihre Mitmenschen und das Leben an sich zugehen lassen. 

Frühe Beziehungsstörungen zwischen Eltern und Kindern können zu Bindungsstörungen führen und sich später bei Kindern, Jugendlichen und im Erwachsenenalter als Verhaltensstörungen fortsetzen, die zumeist nur noch mit psychotherapeutischen Mitteln und manches Mal auch gar nicht mehr geheilt werden können.

Ein Kind, dass die Bindung an eine verlässliche Bezugsperson - zunächst an Mutter und Vater, später auch an professionelle Kinderbetreuer/innen und Pädagogen – erleben konnte, wird sich dort wieder ablösen und zu einem selbstständigen lebenstüchtigen Erwachsenen entwickeln können.   

Anhand anschaulicher Beispiele aus der pädagogischen und familiären Praxis beschreibt Posth, was er unter kindgerechten Bindung und gelungener Loslösung der Kinder von den Eltern versteht, um danach auf Bindungs- und Loslösungsmängel sowie deren Folgen einzugehen.     

Dabei unterzieht er auch das deutsche öffentliche Betreuungswesen in Kindertagesstätten und bei Tagesmüttern einer kritischen Prüfung und kommt dabei zu Mindestforderungen für deren pädagogische Arbeit.

Ansonsten sind Gefühle von höchster gesellschaftspolitischer Relevanz, beeinflussen sie doch das Zusammenleben aller Menschen nachhaltig. Selbst die Börse und politische Gipfelkonferenzen sind bei allem taktischen Pokern von Empfindungen zwischen Angst, Freude, Wut und Trauer abhängig. Wer Menschen Ängste durch vertrauensbildende Maßnahmen nehmen kann, beherrscht die politische Szene und selbst die Aktienkurse.

 

Die Lektüre dieses Fachbuches lohnt sich vor allem für Eltern von Vorschulkindern und für Vorschulpädagogen,  die – ohne sich verunsichern zu lassen - dazulernen möchten. Doch nicht zuletzt ist es auch eine Quelle von Argumenten für Familienpolitiker, die bereit sind, nicht nur Kindern zuliebe wirtschaftlich und gesellschaftlich begründete Fehlentwicklungen zu korrigieren.

Rüdiger Posth, Gefühle regieren den Alltag, Schwierige Kinder zwischen Angst und Aggression, Waxmann Verlag, Münster 2010, 309 Seiten, € 24,90

Orientalische Karriere eines Amrumer Schiffsjungen

 

 Manfred Enzensperger "endlich boppard"
Lyrische Landvermessung

Die amtlichen Bekanntmachungen für August 2010 auf der Homepage der Stadt Boppard beginnen mit „Änderung des Bebauungsplanes „Casinostraße/Herrenstücke““ und der „Meldung der Wein- und Traubenmostbestände“.

Sicherlich wäre es für den Lyriker Manfred Enzensperger ein Leichtes, jene Mitteilungen in Bürokratensprache für ein weiteres Gedicht über Boppard zu verwerten, sah er doch in seinem Gedicht zu der Weinstadt am Rhein mit „kopfschmerzpanorama eine „gedenkgaststätte“. Immerhin kann zuviel des Weines nach einem durchzechten Abend am folgenden Morgen durchaus eine Stadtbesichtigung mit Kopfschmerz nach sich ziehen.

Nicht gerade Kopfschmerzen, aber viel Kopfarbeit und Einfühlungsvermögen ist gefordert, um sich die Texte in Enzenspergers Lyrikband „endlich boppard“ aufzuschlüsseln. Seine Leser verführt er ideenreich zu einer Reise mit dem Finger auf lyrischen Landkarten. Ihre Regionen und Städte hat er lyrisch vermessen, um dann deren geographische Äußerlichkeiten auch auf emotionalen Innenweltkarten nachzuzeichnen.

Dieses dichterische Stadt-Land-Fluss-Spiel eröffnet einen „unverhofften horizont“ „vom startguthaben am kindheitstisch“ bis „abends noch die zecke in der wade“, von seiner Heimatstadt Leverkusen, von Köln, Oostende, Frankfurt und Paris bis ins Bergische Naafbachtal. Um nur einige Stationen zu nennen.

Der Autor hat „schlafende wörter geweckt“, lässt sie „zu duften“ beginnen und seine „aussicht ist an sich keine aussicht“, zumal es um Innensichten geht. Aber auch Inneres wird nach außen gekehrt, wenn „selbst das wort liebe klingt wie das telefonbuch“ seiner “lebensgewohnheiten“.

Am Ende der Reise durch den Gedichtband stehen jedoch weder Wein- noch Weltstädte. Ganz wie es sich für einen Lyriker gehört, der auch als Fachleiter in der Gymnasiallehrerausbildung dem deutschen Kultur- und Bildungswesen zu dienen versucht, kommt noch einmal das Schulleben als „die fortsetzung der realität mit anderen mitteln“ zu lyrischen Ehren. Diese schulische Wirklichkeit vertritt „der lehrer“, „ein in noten eingewickeltes stück fleisch“, wie der Autor behauptet.

Frei nach Ringelnatz wurde alles schon einmal geschrieben, nur nicht von jedem. Doch Manfred Enzensperger setzt originell mit Sprachwitz und –melodie Worte auf ungewohnt sinnstiftende Art zu- und hintereinander. Seine Leser kennen diese Sprache inzwischen aus vorherigen Gedichtbänden. In „endlich boppard“ wirkt sie allerdings noch ausgereifter und vermittelt bei „kafkacasting oder verkaufsoffenem jandl“  „jenes „kraftfahrende kunstheimweh“, das „ein eigenes „gefühl von wärme, schutz und geborgenheit“ aufkommen lässt.

Nicht zuletzt verdient der kleine, aber feine Horlemann Verlag ein besonderes Lob für den Mut zur Herausgabe dieses äußerlich ansprechend aufgemachten Lyrikbandes, den „freunde der geldliteratur“ vermutlich eher nicht beachten werden.

Schön wäre es dennoch, wenn sich einige von ihnen nicht nur durch die Verpackung zur Lektüre verführen ließen.

Für Lyrikfreunde und –genießer sowie für solche, die es werden wollen, für gestandene und Hobby-Lyriker aber kann „endlich boppard“ zu einem außergewöhnlichen Spracherlebnis werden.


Manfred Enzensperger, endlich boppard, Gedichte, Horlemann-Verlag, Bad Honnef, 2010, 87 Seiten

 

In eigener Sache:

Vorruhestandswahn

 

Alles, was vor der ewigen Ruhe kommt , verdient die Bezeichnung Vorruhestand.

Besonders jene Jahre kurz vor und nach dem Renten- oder Pensionseintritt…

Die meisten jungen und älteren Alten wollen es dann noch einmal richtig wissen und geraten in den hinlänglich bekannten Vorruhestandswahn. Vor allem die Ü60-ger werden jene innere Unruhe und Triebhaftigkeit bestens kennen. Meine Schreibertätigkeit und ich waren und sind heftigst davon betroffen. Und mich trieb der Wahn zu meinem

ersten eBook: „Vorruhestandswahn“,

erhältlich bei buecher.de unter eBooks zum Spottpreis von 1,99 €.

Ich würde mich über viele Leserinnen und Leser freuen, besonders aber auch über die eine oder andere (möglichst für mich erfreuliche) Kritik.

Herzliche Grüße

Karl Feldkamp

 

 

 



 


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